Lingzhao hilft
23.05.2020
Lingzhao hilft
China, 8. Jhdt.
Eines Tages waren der Laie Pang und seine Tochter Lingzhao unterwegs, um Bambuskörbe zu verkaufen. Als er von einer Brücke stieg, stolperte Pang und fiel hin. Lingzhao, die das sah, lief zu ihrem Vater und warf sich auf den Boden.
»Was machst du da?«, rief Pang.
»Ich sah dich fallen, also helfe ich«, erwiderte Lingzhao.
»Zum Glück hat es niemand gesehen«, bemerkte Pang.
Der Laie Pang und seine kleine Familie lebten im China des 8. Jahrhunderts und praktizierten mit großer Hingabe den Weg. Etliche ihrer Dialoge fanden Eingang in die Koan-Literatur, die oft auf humorvolle, auch exzentrische oder poetische Weise ihrer tiefen Einsicht Ausdruck geben, wobei es bemerkenswert ist, dass seine Tochter eine so prominente Erwähnung findet. Sie ist die am meisten zitierte und bietet oft die überraschendsten Antworten.
So auch dieses Koan, „Lingzhao hilft“, das sich z.B. in der schönen Sammlung „Das verborgende Licht“ (SteinRich Verlag, Berlin) wiederfindet.
Was können wir von dieser Geschichte lernen?
Es geht offensichtlich um Menschen, die stürzen, die hinfallen, die fallen.
Zunächst stürzt Vater Pang, dann seine Tochter Lingzhao. Der alternde Vater, der beim Hinabsteigen der Brücke stolpert und fällt: dies können wir uns gut vorstellen.
Es ist leicht, dies als Missgeschick zu verstehen: geflochtene Bambuskörbe, die in alle Richtungen fliegen, der Schreck, der harte Aufprall.
Wir alle kennen diese Erfahrung. Sie ist etwas, das uns nicht gefällt: „hoffentlich ist mir nichts passiert!“ Aber auch: „hoffentlich hat mich niemand gesehen!“
Vater Pangs Sturz kann nichts Gutes bedeuten: überraschend ändert sich die Situation, uns wird der Boden unter den Füßen weggezogen, wir verlieren Halt, Orientierung. Wir verlieren vielleicht für einen Moment nur die Kontrolle und finden uns plötzlich am Boden wieder: unser allzu sorgsam sortiertes Leben wird durcheinander gewirbelt, „Bambuskörbe“ in alle Richtungen.
Kommt Euch dies bekannt vor?
Wir fallen immer.
Als Lingzhao neben ihrem Vater hinfällt, versucht sie nicht, ihm auf herkömmliche Weise zu „helfen“. Sie wirft sich neben ihrem Vater auf den Boden. Sie reicht ihm nicht ihre Hand. Sie richtet ihn nicht auf. Sie versucht nicht, das Geschehene zu „verbessern“. Sie fällt ebenso und begibt sich damit in seine Situation, sprichwörtlich auf Augenhöhe. Sie sagt, sie helfe ihm.
Und wie sie ihm hilft!
Sie hilft ihm fallen: genau neben ihn. Ihrer beider Fall ist innig verbunden. Es ist ein Sturz in das Erwachen: hinein in den Fluss des Lebens
Hier befinden wir uns gerade alle, am Rand der „Großen Unsicherheit“.
Wir könnten in jedem Moment fallen. Wir versuchen es zu vermeiden, um jeden Preis, und dann: stürzen wir plötzlich! Sodann stolpern wir: in das, was wir nicht wissen und nicht vorhersehen können.
Fallen kann uns etwas lehren: dass unser Leben existentiell unsicher ist, unkontrollierbar und unvorhersehbar.
Wir fallen und unser Leben kommt uns entgegen. Wir rauschen ineinander: überraschend, unverblümt. Erwartungen, Illusionen, Fantasien, wie die Dinge eigentlich sein sollten, fallen plötzlich (kurz) ab.
Diese rührende, wenn auch vielleicht skurril anmutende Geschichte von Vater und Tochter kann Euch auf ganz verschiedene Weise berühren, es gibt hier kein richtig oder falsch.
Auch in unserer Übung können wir uns dem Fallen als menschlicher Grunderfahrung widmen. Fallen in das Unbekannte, Ungewisse und unsere erste Reaktion darauf: Angst.
Natürlich betrifft uns dies in diesen Tagen aus aktuellem Anlass ganz besonders: Angst begegnet uns in uns selbst, in Menschen, die wir treffen und in den Medien in verschiedenen Schattierungen: diffuse Angst, Furcht, dass dies oder das passieren könnte. Ängstlichkeit, Verunsicherung, Haltlosigkeit, Panik.
Jemand sagte einmal, die allererste Angst des Menschen sei nicht die vor Schmerz oder Hunger, sondern die Angst vor dem Fallen. Wir können uns das gut vorstellen, ein tief verankerter Instinkt aus unserer Vorgeschichte, der uns das Überleben sicherte. Alle anderen Ängste ließen sich auf die Angst vor dem Fallen zurückführen.
Wie können wir mit ihr üben?
Der Buddha sagte, Furchtlosigkeit sei die Frucht der Übung. Dies klingt schön, ist aber schwer vorzustellen, vor allem: wie kommen wir zu ihr?
Die alten Lehren sagen uns nun etwas, was wir nicht so gern hören mögen:
Furchtlosigkeit lässt sich nur erfahren, wenn wir die Natur unserer Angst gut kennenlernen.
Mit anderen Worten: wir werden unsere Angst nicht einfach los, wir können sie nicht über Bord werfen, sondern: wir wenden uns ihr zu, werden ganz intim mit unserer Angst.
Dies ist viel verlangt: Angst zu spüren ist bereits herausfordernd genug, und dann sollen wir uns ihr auch noch zuwenden?
Unsere spontane Reaktion ist eben nicht: „Oh, ich kann es kaum erwarten, Angst zu haben!“
Wie können wir dies tun?
Das Wort Angst kommt von lat. „angustus“, eng, die Enge.
Wir können uns der ersten körperlichen Reaktion zuwenden, wenn wir Angst verspüren, sie wahrnehmen, sie beobachten.
Vielleicht spüren wir ein Unwohlsein, eine Enge der Kehle, des Magens. Vielleicht ein Schwitzen, Herzklopfen.
Meist setzt dann eine Sequenz ein, die von unserer persönlichen Gewohnheitsenergie diktiert wird:
Eine emotionale Reaktion: Ärger, Wut, Starre, Verzweiflung, Depression.
Vielleicht Gedankenspiralen: wir versuchen zu verstehen, analysieren. Wir versuchen, die Situation zu kontrollieren.
Danach folgt oft eine Handlung, um das Gefühl der Angst zu lindern: vielleicht Ablenkung, Essen, ein bisschen Alkohol, etc.
Unsere Aufgabe ist, dass wir wahrnehmen, was passiert, wenn wir Angst empfinden: es studieren, ohne zu werten. Wir bleiben dabei freundlich zu uns selbst.
Wichtig ist, dass wir den allerersten Anfang erkennen, den Moment, wenn Angst sich zeigt, und dann dabei bleiben, bevor unsere eigene, persönliche Gedanken- und Handlungsreaktion folgt.
Daher ist die Aufmerksamkeit, die aus unserer Meditationspraxis erwächst, hierbei so hilfreich.
Mit etwas Übung werden wir zutiefst vertraut mit unserer eigenen Verletzlichkeit – und können sie auch in anderen erkennen.
Denn immer fallen wir. Und immer fallen wir auch alle gemeinsam.
Weil wir Menschen sind.
„Lege Deine Angst in die Krippe der liebenden Güte.“ (Pema Chödrön)
„Lächle Deine Angst an.“ (Thich Nath Hanh)
Gassho, Juen & Nanzan
China, 8. Jhdt.
Eines Tages waren der Laie Pang und seine Tochter Lingzhao unterwegs, um Bambuskörbe zu verkaufen. Als er von einer Brücke stieg, stolperte Pang und fiel hin. Lingzhao, die das sah, lief zu ihrem Vater und warf sich auf den Boden.
»Was machst du da?«, rief Pang.
»Ich sah dich fallen, also helfe ich«, erwiderte Lingzhao.
»Zum Glück hat es niemand gesehen«, bemerkte Pang.
Der Laie Pang und seine kleine Familie lebten im China des 8. Jahrhunderts und praktizierten mit großer Hingabe den Weg. Etliche ihrer Dialoge fanden Eingang in die Koan-Literatur, die oft auf humorvolle, auch exzentrische oder poetische Weise ihrer tiefen Einsicht Ausdruck geben, wobei es bemerkenswert ist, dass seine Tochter eine so prominente Erwähnung findet. Sie ist die am meisten zitierte und bietet oft die überraschendsten Antworten.
So auch dieses Koan, „Lingzhao hilft“, das sich z.B. in der schönen Sammlung „Das verborgende Licht“ (SteinRich Verlag, Berlin) wiederfindet.
Was können wir von dieser Geschichte lernen?
Es geht offensichtlich um Menschen, die stürzen, die hinfallen, die fallen.
Zunächst stürzt Vater Pang, dann seine Tochter Lingzhao. Der alternde Vater, der beim Hinabsteigen der Brücke stolpert und fällt: dies können wir uns gut vorstellen.
Es ist leicht, dies als Missgeschick zu verstehen: geflochtene Bambuskörbe, die in alle Richtungen fliegen, der Schreck, der harte Aufprall.
Wir alle kennen diese Erfahrung. Sie ist etwas, das uns nicht gefällt: „hoffentlich ist mir nichts passiert!“ Aber auch: „hoffentlich hat mich niemand gesehen!“
Vater Pangs Sturz kann nichts Gutes bedeuten: überraschend ändert sich die Situation, uns wird der Boden unter den Füßen weggezogen, wir verlieren Halt, Orientierung. Wir verlieren vielleicht für einen Moment nur die Kontrolle und finden uns plötzlich am Boden wieder: unser allzu sorgsam sortiertes Leben wird durcheinander gewirbelt, „Bambuskörbe“ in alle Richtungen.
Kommt Euch dies bekannt vor?
Wir fallen immer.
Als Lingzhao neben ihrem Vater hinfällt, versucht sie nicht, ihm auf herkömmliche Weise zu „helfen“. Sie wirft sich neben ihrem Vater auf den Boden. Sie reicht ihm nicht ihre Hand. Sie richtet ihn nicht auf. Sie versucht nicht, das Geschehene zu „verbessern“. Sie fällt ebenso und begibt sich damit in seine Situation, sprichwörtlich auf Augenhöhe. Sie sagt, sie helfe ihm.
Und wie sie ihm hilft!
Sie hilft ihm fallen: genau neben ihn. Ihrer beider Fall ist innig verbunden. Es ist ein Sturz in das Erwachen: hinein in den Fluss des Lebens
Hier befinden wir uns gerade alle, am Rand der „Großen Unsicherheit“.
Wir könnten in jedem Moment fallen. Wir versuchen es zu vermeiden, um jeden Preis, und dann: stürzen wir plötzlich! Sodann stolpern wir: in das, was wir nicht wissen und nicht vorhersehen können.
Fallen kann uns etwas lehren: dass unser Leben existentiell unsicher ist, unkontrollierbar und unvorhersehbar.
Wir fallen und unser Leben kommt uns entgegen. Wir rauschen ineinander: überraschend, unverblümt. Erwartungen, Illusionen, Fantasien, wie die Dinge eigentlich sein sollten, fallen plötzlich (kurz) ab.
Diese rührende, wenn auch vielleicht skurril anmutende Geschichte von Vater und Tochter kann Euch auf ganz verschiedene Weise berühren, es gibt hier kein richtig oder falsch.
Auch in unserer Übung können wir uns dem Fallen als menschlicher Grunderfahrung widmen. Fallen in das Unbekannte, Ungewisse und unsere erste Reaktion darauf: Angst.
Natürlich betrifft uns dies in diesen Tagen aus aktuellem Anlass ganz besonders: Angst begegnet uns in uns selbst, in Menschen, die wir treffen und in den Medien in verschiedenen Schattierungen: diffuse Angst, Furcht, dass dies oder das passieren könnte. Ängstlichkeit, Verunsicherung, Haltlosigkeit, Panik.
Jemand sagte einmal, die allererste Angst des Menschen sei nicht die vor Schmerz oder Hunger, sondern die Angst vor dem Fallen. Wir können uns das gut vorstellen, ein tief verankerter Instinkt aus unserer Vorgeschichte, der uns das Überleben sicherte. Alle anderen Ängste ließen sich auf die Angst vor dem Fallen zurückführen.
Wie können wir mit ihr üben?
Der Buddha sagte, Furchtlosigkeit sei die Frucht der Übung. Dies klingt schön, ist aber schwer vorzustellen, vor allem: wie kommen wir zu ihr?
Die alten Lehren sagen uns nun etwas, was wir nicht so gern hören mögen:
Furchtlosigkeit lässt sich nur erfahren, wenn wir die Natur unserer Angst gut kennenlernen.
Mit anderen Worten: wir werden unsere Angst nicht einfach los, wir können sie nicht über Bord werfen, sondern: wir wenden uns ihr zu, werden ganz intim mit unserer Angst.
Dies ist viel verlangt: Angst zu spüren ist bereits herausfordernd genug, und dann sollen wir uns ihr auch noch zuwenden?
Unsere spontane Reaktion ist eben nicht: „Oh, ich kann es kaum erwarten, Angst zu haben!“
Wie können wir dies tun?
Das Wort Angst kommt von lat. „angustus“, eng, die Enge.
Wir können uns der ersten körperlichen Reaktion zuwenden, wenn wir Angst verspüren, sie wahrnehmen, sie beobachten.
Vielleicht spüren wir ein Unwohlsein, eine Enge der Kehle, des Magens. Vielleicht ein Schwitzen, Herzklopfen.
Meist setzt dann eine Sequenz ein, die von unserer persönlichen Gewohnheitsenergie diktiert wird:
Eine emotionale Reaktion: Ärger, Wut, Starre, Verzweiflung, Depression.
Vielleicht Gedankenspiralen: wir versuchen zu verstehen, analysieren. Wir versuchen, die Situation zu kontrollieren.
Danach folgt oft eine Handlung, um das Gefühl der Angst zu lindern: vielleicht Ablenkung, Essen, ein bisschen Alkohol, etc.
Unsere Aufgabe ist, dass wir wahrnehmen, was passiert, wenn wir Angst empfinden: es studieren, ohne zu werten. Wir bleiben dabei freundlich zu uns selbst.
Wichtig ist, dass wir den allerersten Anfang erkennen, den Moment, wenn Angst sich zeigt, und dann dabei bleiben, bevor unsere eigene, persönliche Gedanken- und Handlungsreaktion folgt.
Daher ist die Aufmerksamkeit, die aus unserer Meditationspraxis erwächst, hierbei so hilfreich.
Mit etwas Übung werden wir zutiefst vertraut mit unserer eigenen Verletzlichkeit – und können sie auch in anderen erkennen.
Denn immer fallen wir. Und immer fallen wir auch alle gemeinsam.
Weil wir Menschen sind.
„Lege Deine Angst in die Krippe der liebenden Güte.“ (Pema Chödrön)
„Lächle Deine Angst an.“ (Thich Nath Hanh)
Gassho, Juen & Nanzan