October 2022

Groß ist das Gewand der Freiheit

In unserem „friedlichen Verweilen im Herbst“ (Ango) beschäftigen wir uns mit Gelübden.
Eines der zentralen Gelübde des Zen stellen die „Vier großen Gelübde eines Bodhisattva“ dar.

Die Definition eines Bodhisattva besteht darin, die Absicht zu fassen, sein Leben nach dem Gelübde zu leben und nicht primär nach karmischen Impulsen. Diese können uns bewegen wie ein Blatt im Herbstwind: mal hierhin, mal dahin, je nachdem wie unsere Gewohnheiten, Vorzüge, Wertvorstellungen gerade wehen. Diese wiederum entwickeln sich im Laufe unseres Erwachsenwerdens, sie richten sich nach den Werten der Gesellschaft, in der wir leben. Wir benutzen dieses Wertesystem um zu handeln, zu urteilen, abzuwägen. Wir neigen hierbei zur Wahl dessen, was uns anzieht und wir scheuen das, was wir nicht mögen. Es sind meistens reflexartige Entscheidungen, die selten durchdacht sind, die auf junge Teile in uns selbst zurückgehen und oft „nur uns selbst“ im Blickfeld haben.

Jede und jeder in unserer Praxis ist dazu aufgerufen, ein Bodhisattva zu sein. Im Gegensatz zu jenen selbstlosen Heiligen, die sich der Welt entsagten, findet das Leben eines Bodhisattvas inmitten von allem Weltlichen statt. Ein Bodhisattva strebt danach, Entscheidungen zu treffen, die Leid vermindern und die Weisheit und Mitgefühl aller fördern. Ein Bodhisattva hat immer die Gemeinschaft im Sinn. Wir beginnen mit uns, wir schauen genau hin. Wir müssen nicht warten, bis wir „alles“ gesehen haben. Es reicht – und ist anstrengend genug - die eigene Verantwortung zu erkennen und bereit zu sein, sie zu tragen. Ein Bodhisattva ist ein spirituell erwachsen gewordener Mensch, das ist nicht selbstverständlich und geschieht nicht einfach so.

Natürlich unterliegt auch ein Bodhisattva dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Alles, was wir tun, hat Folgen. Solange wir hier sind. Solange wir denken können. Alles, was je getan wurde und getan werden wird, hat Folgen. Wir versuchen im Zuge der Übung, diese scheinbar unsichtbaren Abfolgen zunächst für uns selbst zu durchschauen. Wir beginnen mit der rein individuellen Ebene, die wir Zug um Zug erweitern auf unsere Erziehung, unsere Familie, unsere Nation.
Wir erfahren: wir selbst sind die Folgen unserer Taten, unserer Sprache, unseres Denkens und Handelns.

Vermeide Unheilvolles.
Tue was gut ist.
Lebe zum Wohle aller Wesen.


Dies sind nicht die Versprechen entfernter Heiliger vor langer Zeit. Dies beschreibt unsere Worte, unser Bemühen. Sie sind ein Appell an uns, die wir das große Glück haben, dieser wunderbaren Praxis begegnet zu sein. Wir sind dazu aufgerufen, sie mit größtmöglicher Aufmerksamkeit und Aufrichtigkeit zu üben. Im Zuge dessen weitet sich unsere Sorge immer mehr aus – ich kann nie wieder sagen: „Das ist nicht mein Problem.“
Ein Bodhisattva steht entgegen dem allgemeinen Trend nach isolierter Selbstschau, Ablenkung und „Schmerzarmut“.
Als Bodhisattvas sind wir bereit, uns vollkommen in den Dienst zu stellen, einen Dienst, der uns an Orte bringen wird, die wir uns niemals hätten träumen lassen. Einen Dienst, der uns Freiheiten eröffnet, die wir nicht erahnt und Empfindungen ermöglicht, die wir niemals gekannt haben. Einen Dienst, der für uns unbändige Freude und tiefe Traurigkeit, große Verbundenheit und edle Einsamkeit bereithalten wird.
Dies wird der Dienst im großen Gewand der Freiheit genannt: ein Feld des Glücks jenseits aller Formen.

Zahllose fühlende Wesen:
ich gelobe, mit allen gemeinsam zu erwachen.
Täuschungen sind unerschöpflich: ich gelobe, sie alle zu lassen.
Unzählbare Dharma-Tore:
ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Unübertroffen ist Buddhas Weg: ich gelobe, ihn zu verwirklichen.


Gassho, Juen

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Ango im Herbst

Wir bemühen uns.
Wir scheitern.
Wir beginnen wieder neu.
Wir tragen beides.
Das ist unser Leben.

Wir tragen dies genauso wie die oszillierenden Kräfte unseres Ichs: immer neu, immer ein bisschen anders.

Heute hat unser „friedliches Verweilen“ - Ango - im Herbst begonnen; mit morgendlichem Zazen dienstags (online) und der individuell zu formulierenden Absicht, sich etwas Konkretes vorzunehmen, das wir in diesen Wochen spirituell beleuchten möchten.

Unser Thema für diese Ango: die Gelöbnisse. Alle sind herzlich eingeladen!

Obschon dieses unwissende Ich
wohl niemals ein Buddha werden wird
gelobe ich andere hinüberzusetzen
weil ich ein Mönch bin.

Dogen Zenji

Gassho, Juen

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Von einem Ich, das nicht ist. Manchmal aber doch. Oder nicht?

In den letzten Wochen haben wir uns darüber unterhalten, welches „Ich“ wir meinen, wenn wir davon sprechen – das „Alltags-Ich“ oder das „Ich“, das wir im Zen auch als unsere „wahre Natur“ bezeichnen. Ein „Ich“, dass weit über die physischen Grenzen unseres Körpers hinausreicht, ein „absolutes Ich“, das alle „Du’s“ beinhaltet.

Sind sie gleich, gar gleichwertig? Wenn sie verschieden sind, wie verhalten sie sich dann zu mir, ich zu ihnen in meinem (einen) Körper?

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Was geschieht mit dem anderen Ich, wenn es nicht gerade „aktiv“ ist?
Sprechen wir von verschiedenen Dimensionen oder von einzelnen Aspekten eines Ich? Sollten wir das Alltags-Ich loswerden, absitzen, verleugnen, überwinden um immer im „absoluten Ich“ verweilen zu können?
Woran merke ich, welches Ich gerade angeschaltet ist?

Mit der Einschränkung, dass Worte hierin immer nur eine Annäherung sein können, haben wir versucht, uns diesen Fragen zu nähern und kamen im vorerst letzten Kapitel unserer Suche zurück auf die Grundsätze ethischen Handelns, insbesondere die der „Drei reinen Grundsätze“:

Ich gelobe, Unheilvolles zu lassen
Ich gelobe, Gutes zu tun
Ich gelobe, zum Wohle aller Wesen zu leben


Diese sind vor allem eines: Sätze der Einheit, der Verbindung und der Verbundenheit. Sie können als heilsame Medizin nur dann wirken, wenn wir bereit sind, das gesamte Potential des jeweiligen Momentes auszuschöpfen, uns damit immer mehr anfreunden, Atemzug für Atemzug. Dies wird immer unser jeweiliges Gegenüber, vom Grashalm bis zur Bügelwäsche oder unseren schwierigen Arbeitskollegen, beinhalten. Und zwar bevor wir handeln. Bevor wir gewahr werden, zu denken. Bevor wir uns in Erscheinung bringen.

Die Frage danach, welches Selbst unser Gesicht vor dem Geborenwerden unserer Eltern trägt, beantwortet sich dann ganz von selbst.

Gassho, Juen

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Ich bin ich oder etwas mehr oder etwa nicht?

Im Zen sprechen wir gelegentlich von ich und vom Ich oder von selbst und dem Selbst – im Sinne eines relativen und absoluten Verständnisses. Ist das Ich, das ins Nirvana verweht wird, „groß“ oder „klein“? Wie sollen wir mit unserem konditionierten Ich umgehen? Sollen wir es leugnen, wegsitzen, überwinden?
Was ist das für ein Ich, das einkaufen geht, Sitzungen beiwohnt und Telefonate entgegennimmt? Wie viele Ichs befinden sich in uns?

Im Zen machen wir uns mit allen Ichzuständen vertraut: der großen Weite genauso wie dem kleinkarierten, kleinlichen Ich.

Diese gut kennenzulernen, stellt einen wichtigen Teil unserer Praxis dar. Dabei ist es gar nicht immer sicher, dass die Begebenheiten des „kleinen Ich“ uns weniger Erkenntnismomente bescheren als die Erfahrungen der Einheit. Alles kann Anlass sein, wach zu werden, andere mit unserer Präsenz zumindest nicht zu belasten, vielleicht sogar ein wenig zu erfreuen und selbst darüber glücklicher zu werden.

Nirvana und Samsara sind eins.
Dogen Zenji

Bei allen immer zu kurz bleibenden Versuchen, diese Erfahrungen in Worte zu fassen, die stets nur eine Anlehnung, eine Annäherung, anbieten können an das, was wir als Bodhi-Geist, als „wahre Wirklichkeit“ bezeichnen: es ist einfacher, sich mit nur einer Dimension unseres Ichs anzufreunden. Die Spannungen der Gegensätze des Ichs zu halten und uns mit ihnen innigst vertraut zu machen, ist unsere Übung. Unser Wachwerden enthüllt unsere Verbundenheit, welche, falls unsere Praxis von irgendeinem Wert ist, in unsere Gemeinschaften und Familien integriert werden muss.

Wir arbeiten mit unseren Verfehlungen und Illusionen, so gut wir können, wir verwandeln sie als Anlass, unser Ich ganz genau unter die Lupe zu nehmen und schaffen es, so aus jedem „Irrtum“ eine spirituelle Lehrstunde zu machen, die uns hilft, aufmerksamer und wacher zu werden für nicht nur unsere eignen Belange, sondern die Klänge der Welt. Denn wir üben nicht nur für uns, sondern für und mit allen anderen. Das müssen wir gar nicht aktiv entscheiden, es geschieht automatisch.

Und wenn wir nicht mehr weiter wissen, wenden wir uns an jenen Mann, der nach seiner Erkenntnis, nach vielen Jahren der Suche in verschiedenen Praktiken inklusive der strengsten Askese, 50 Jahre lang auf den staubigen, beschwerlichen Straßen Indiens lehrte.
Der Buddha diente. Er diente unermüdlich. Er diente ohne es zu müssen, ohne davon viel zu haben. Dieses Dienen war die Manifestation seines Erwachens.
Er diente aus Liebe. Aus Liebe zum Sein, zu den Mitmenschen, zu allem, was ihm umgab. Deswegen wurde er unsterblich. Unsterblich unsichtbar. Enthalten in allem, für jene, die sehen möchten, bis zum heutigen Tag und weit darüber hinaus.

„Wasser hat immer Wellen. Wellen sind die Praxis des Wassers.“
Shunryu Suzuki


Gassho, Juen

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