February 2022

Täuschungen sind unerschöpflich

Seit etwa zwanzig Jahren treffen wir uns donnerstags zum Zazen, abgesehen von einer Sommerpause und einer kleinen Unterbrechung zwischen den Jahren. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden hat sich über die Jahre verändert, zuletzt auch das Format: seit 2 Jahren überwiegend virtuell.
Aber wir kommen zusammen. Donnerstag, das ist "unser Abend".

In Zeiten der Pandemie war dies ein wichtiger Anker in Wochen, die vieles bis dahin Selbstverständliches erschütterten: öffentliche Verbote, schwere Einschnitte in unser soziales Leben, in unser Verhalten insgesamt. Wir konnten nicht mehr in einem Raum zusammen rezitieren, ein wichtiger Bestandteil unserer Praxis. Vor allem aber: wir konnten nicht in einem Raum zusammen das tun, was unseren Leben, für viele von uns seit Jahren, Halt gibt und Stütze ist. Das war und ist äußerst schmerzhaft. Leider hat sich auch durch die erzwungene Distanzierung die Zusammensetzung unserer kleinen Gemeinschaft verändert.

Aktuell jedoch scheint es, als ob ein wenig Hoffnung berechtigt ist, die wärmeren Zeiten nahen, die Fallzahlen sinken. Zarte Gedankenausflüge auf ein wiedereröffnetes Zendo, zumindest von April bis Oktober.
Erinnerungen an unseren Klang, an diesen einen Klang, an das Lachen und an die Stille in unserem schönen Zendo am Ende der Straße, das dieses Jahr 10 Jahre alt wird. So in etwa waren unsere Gedanken und Hoffnungen. Nun wurden unsere Leben erneut erschüttert - 24. Februar 2022.

Niemals hätten wir gedacht, dass wir uns an einem Abend treffen würden, an dem ein Krieg beginnt. Mitten unter uns, 1719 km von unserem Zendo entfernt. In einem Land, dass sich seit Ende der 90er Jahre demokratisiert hat. In einem Land, das konstitutionell betrachtet, dem unsrigen nahesteht. Es wird auf eine Bevölkerung geschossen, die sich seit Jahren westlich orientiert. Das alles geschieht nicht nur auf unserem Kontinent, es geschieht: den unsrigen.

Wir haben an dem Abend auch über unsere Gefühle gesprochen, die von Angst, Wut und großer Traurigkeit geprägt sind.
Reicht das?
Was können wir, als Bodhisattvas in einem Land mit ruhigen Nächten und vollen Märkten, darüberhinaus aktuell tun?
Natürlich sind wir machtlos gegenüber Panzern und Gewehren. Ebensowenig können wir heute dorthin reisen und "helfen".
Reicht das "denken an", die Kerze auf der Fensterbank, der betroffene Blick?
Nein, natürlich nicht.

In Anbetracht dieser unverhohlenen Bedrohung für unseren Frieden und den unserer Enkel, in Anbetracht der Tatsache, dass nun offenbar wird, was einige, allerdings pandemiebedingt, bereits vermutet haben: die Welt wird nicht mehr sein wie vor dem Januar 2020.

Hatte bereits Wuhan gezeigt, dass dies zwar eine Stadt im fernen China sein mag, die aber dennoch drei Monate später hautnah bei uns einziehen kann, macht uns die aktuelle Aggression deutlich, dass es in modernen Zeiten "fern oder nah" nicht mehr gibt. Nie wieder geben wird. Wir sind, willentlich oder unfreiwillig, miteinander zutiefst verknüpft. Ob es der am Folgetag bereits angestiegene Benzinpreis ist oder weitaus tiefergehende Umwälzungen der zukünftigen Monate: alles, alles findet auch in unserem Wohnzimmer, auf unserem Tablet, auf unserem Smartphone statt.
Nie war es sprichwörtlich sichtbarer, dass jede meiner Handlungen Auswirkungen hat, nicht nur auf den direkten Adressaten, sondern Wellenringe auslöst wie ein Stein auf einem See. Dieser Krieg ist auch eine Folge zahlloser Entscheidungen im Vorfeld.

Das kann ich tun. Dies im Blick haben, diese ein, zwei Sekunden bedenken, wohin mein Ruf führt, bevor ich ihn aussende: wer wird wie reagieren? Wer wird wie Schaden nehmen? Und natürlich auch: wie wird das Ganze zu mir zurückkommen? Denn das tut es. Immer. Es ist ein altes Gesetz, heute etwas schneller als zu Napoleons Zeiten, aber genauso zutreffend.

Zazen, diese stille unscheinbare Praxis, zeichnet sich durch ein hohes Maß an Entschlossenheit aus. Ein bisschen Zazen, das geht nicht. Wir praktizieren jedes Mal den ganzen Atem, jedes Mal die ganze Sitzrunde.
Das kann ich tun: sagen, was ist. Klar und deutlich, dank meiner Praxis, die ein untrügliches Gespür dafür vermitteln kann, was richtig ist und was falsch ist.

Aber geht es im Zazen nicht darum, unsere Dualität zu verlassen?
Natürlich verlassen wir diese, versuchen wir, alles einzubeziehen, im Moment gerade diese Wucht aus Hilflosigkeit, Schuldgefühlen, Angst und ein bisschen Dankbarkeit dafür, noch im Warmen sitzen zu können.

Das ist die eine Seite. Sie ist jedoch nicht zu verwechseln mit einem Zustand, der auch im Zazen jedes Mal gebogen und gedehnt wird bis er ist wie ein Bambus: biegbar, aber kaum zu brechen. In der Hospizarbeit nennen wir dies "Haltung". Wissen, ein Wissen, das aus dem Hara kommt, das uns erkennen lässt, was genug ist und wann. Wissen um Inhalt, Folgen, Zeitpunkt und Tempo. Was richtig ist und was falsch. Was heilsam ist und was ruinös. Wie ich handeln muss. Das geschieht in einem denkfreien Raum, denn es ergibt sich als natürliche Geste aus dem Zazen.
Das kann ich tun.

Ich kann mein Leben auf dessen Friedfertigkeit hin beleuchten. Wie halte ich es mit meiner Macht? Wann neige ich zur Manipulation? Wann füge ich meinen Worten etwas hinzu, was vielleicht nicht ganz der Wahrheit entspricht? Neige ich zu starken Meinungen? Was gewinne ich dadurch? Wie fühlt sich das an und wo spüre ich es in meinem Körper?
Auch das kann ich tun.

Wir fühlen uns nicht nur seit vielen Jahrzehnten erstmals wieder bedroht, wir sind es. Wie verändert dies meine Sicht, meine Handlungen im Alltag? Sortieren sich meine Prioritäten anders? Meine Zeit hier ist kurz, auch das wird jetzt noch deutlicher. Was bleibt zu tun? Wie möchte ich sie leben?
Auch das kann ich tun.

Reicht das? Nein. Es reicht nicht. Zu gewaltig sind die Ereignisse, zu erschütternd die Bilder, zu tiefgreifend werden die Folgen sein.
Hat es je gereicht? Nein.

Was zählt im Angesicht all dessen? Dabeibleiben. Aushalten. Die ganze Katastrophe mitten in mir. Sie ist schon lange vor Ort. Nun wird sie sichtbar, spürbar für jeden von uns in der Folge, all dies ganz in unserer Nähe. Das sind wir. Das vermögen wir. Und das alles haben wir dem entgegenzusetzen: Klarheit und Entschlossenheit. Mut und Mitgefühl. Verzicht und Disziplin. Vertrauen in den unerschütterlichen Teil in uns, der weiß, was richtig ist und was falsch, was geeint werden muss und was für immer zum Schweigen gebracht werden sollte.

Wir sind es uns schuldig, unserem kleinen noch verletzlicherem Leben. Den Geschichtsbüchern und unseren Enkeln. Den vielen Generationen, die dafür gearbeitet und oft auch ihr Leben gelassen haben, dass wir es "besser" haben mögen. Und jenen Frauen und Männern nicht weit von hier, die an uns glauben, deren Werte wir teilen, angefangen von ihrer Heimatliebe bis hin zu einem Sehnen nach Leben in Freiheit.
Auch das können wir tun. Müssen wir tun. Ab jetzt. Bis zum Horizont und darüber hinaus.

Zahllose fühlende Wesen: ich gelobe, mit allen gemeinsam zu erwachen.
Täuschungen sind unerschöpflich: ich gelobe, sie alle zu lassen.
Unzählbare Dharma-Tore: ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Unübertroffen ist Buddhas Weg: ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

Die Vier Großen Gelöbnisse


Gassho, Juen und Nanzan


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Juen, Nürnberg/Hiroshima 2005


Im Zen gibt es doch keine Gefühle - oder?

Frage: wir alle kennen Dogens „Denke das nicht denken“ aus dem Fukanzazengi.
Gilt das auch für Gefühle? Besteht ein Ziel unserer Praxis auch im „Fühle das Nicht-Fühlen?“

Gefühle in unserer Praxis beschreiben sowohl Emotionen als auch Empfindungen im engeren Sinne (vedana, skt.). Sie bilden eine Art Färbung des jeweiligen Moments, das im Englischen so treffend mit „feeling tone“ umschrieben wird.

Diese entstehen, wenn unsere Sinne mit der Außenwelt Kontakt haben: das Auge sieht Farben und Formen, wir hören, riechen, schmecken, tasten. Etwas schwieriger ist es beim (buddhistisch gesprochen) 6. Sinn – unserem Bewusstsein, unserem Denken. Wir denken und fühlen. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Und da wir fast immer mit unseren Körpersinnen aktiv sind und die meiste Zeit des Tages auch denken, fühlen wir nonstop.

Beeindruckend zusammengefasst, auch unter psychologischen Gesichtspunkten, ist dies in der jahrhundertealten Einteilung in die fünf Skandhas, die fünf Daseinsgruppen. Diese unterteilt Form (in erster Linie unseren Körper und Sinnesorgane), Gefühle, Wahrnehmungen, Willensregungen und unser (unterscheidendes) Bewusstsein.

Unser Denken und Handeln sind untrennbar mit Gefühlen, deren Spektrum von Emotionen wie Trauer, Wut, Einsamkeit bis hin zur Wahrnehmung eines neutralen Seinszustandes reicht, verbunden. Im Zazen haben wir die Gelegenheit, mit diesem, im Vergleich zu unserer Gedankenwelt, nicht weniger komplexem Universum in Kontakt zu treten. In der Stille ist beides erfahrbar, wobei die Gefühlswelt nicht selten durch unser Denken behindert wird und oft wesentlich mehr Übung und Ausdauer benötigt, um wahrgenommen zu werden.

Dennoch werden wir nicht zufrieden werden und frei handeln können, wenn wir diese weiterhin „außen vor“ lassen. Das ist ohnehin unmöglich.

Unsere Gefühle sind zudem meistens weitaus weiser als unsere Gedanken. Sie können uns an der Hand nehmen, wenn wir es denn zulassen. Sie können uns ein verlässlicher Mentor sein, der uns behutsam einen Zugang zu den vergessenen und tief verborgenen Wiesen unserer Herzen weist. Sie bilden den eigentlichen Schlüssel für Dogens „Tor der Freude und Leichtigkeit“. Sie können sich berückend gut anfühlen und vernichtend schwer. Sie bleiben bei uns, solange wir hier sind. So oder so. Wir könnten sie daher auch gleich einladen, unser Freund und Gast zu sein auf unserer immer wieder spannenden Exkursion durch unsere Innenwelt und darüber hinaus.

Gassho, Juen und Nanzan


Noch hier - wie ein Tautropfen auf einem Grashalm
Am Wegesrand,
bin ich noch immer in dieser fließenden Welt.
Mond am Morgen.


Niemand zuhause
Herabgefallene Kiefernadeln
Verstreut vor der Tür.


Melone
Ich löffle und esse
Breche und esse
Und danach
behalte ich sie um meinen Mund.

Daigu Ryokan

(aus „Hoher Himmel Großer Wind“, edition steinrich, 2012)


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Genug ist nicht genug

Im Rahmen unserer Erinnerungen an Thich Nhat Hanh haben wir uns vergangene Woche über seine Gedanken und Handlungsvorschläge zu einem achtsamen Leben unterhalten.

Wie konnte er, der nach außen so Sanfte, Buddhas Lehre der Vier Edlen Wahrheiten, insbesondere der ersten, „Leben ist leidvoll“, mit seinen Ermutigungen für ein glückliches und zufriedenes Leben für alle vereinen?

Einatmend beruhige ich meinen Körper
Ausatmend lächle ich
Ich verweile im gegenwärtigen Moment
Ich weiß dies ist ein wundervoller Moment

Indem er unser Gewahrsein der Formenwelt, als Wesen mit Körper, umgeben von der Welt der Objekte, immer wieder betonte. Alle spirituellen Übungen sind sich hierin einig: Meditation beginnt mit dem Körper, zunächst dem Körper an sich, seinem reichen Eigenleben, aber auch mit seinem Verhältnis, seiner Positionierung zur Außenwelt, zum unmittelbaren und zum über unser Auge hinausreichenden Raum. Wo sind meine Füße? Wie berühren sie den Boden? Wo ist mein Atem? Wie fühlt er sich an? Wie fühlt sich seine Verbindung zum Raum oberhalb des Kopfes an?

Und indem er nicht müde wurde zu betonen, dass zwar „jeden Tag Tausende Menschen, auch Kinder, an Unterernährung sterben, im Krieg oder bei Terroranschlägen“. Das ist richtig, auch heute, auch hier, auch jetzt und leider, leider immer noch. Das ist Leiden, Trennung, Kontaktverlust. Und es ist tief unten in uns verankert.

„Und doch ist der Sonnenaufgang wundervoll, und die Rose, die heute Morgen vor der Mauer blühte, ist ein Wunder“. Auch das ist richtig. Auch unser Alltag, ein ganz „normaler“ Tag, ist gefüllt mit wunderbaren, zärtlichen Momenten, die uns staunend innehalten und zutiefst dankbar machen können.

Im Zazen lernen wir, Atemzug für Atemzug, mit beiden Welten in Berührung zu kommen. Mit allen Welten. Jede Einheit auf dem Kissen ein wenig mehr. Und wir lernen, beides, alles, zu halten: den Schrecken und das Staunen, die unbändige Freude und die tiefe Verzweiflung.

Das ist Leben, unser einziges, kleines, letztendlich doch ziemlich kurzes Leben. Wir können es bis weit über den Horizont hinaus erfahren, erspüren, durchkosten und erleben. Wir beginnen in unserer kleinsten Einheit. Sie ist immer verfügbar und sie ist unendlich geduldig mit uns: unser Körper, unser Atem, unser Geist.

Noch sind wir hier, noch können wir mit diesen drei Säulen unser Haus der Gastlichkeit am Morgen öffnen und gen Abend die Rollos wieder hinunterlassen. Das ist sowohl Friedensarbeit als auch eine kleine Anleitung zum Glücklichsein, die uns dieser leise Lehrer hinterlassen hat.

„Sind wir friedvoll, sind wir glücklich, können wir lächeln und blühen wie eine Blume, und jeder Mensch in unserer Familie, in unserer Gesellschaft wird von unserem Frieden profitieren.“

Gassho, Juen


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In memoriam

Vor ein paar Wochen ist Thich Nath Hanh gestorben. Es ist nicht leicht, jemanden von derartiger Strahlkraft zu würdigen. Ich möchte dies gar nicht erst versuchen, doch schildern, inwiefern TNH mein Leben beeinflusst hat: persönliche Gedanken, die an dieser Stelle eher selten sind.
 
Für mich war er vor allem ein Brückenbauer. Jemand, der nicht nur seine eigene Tradition mit unserer westlichen Lebensweise zu verknüpfen versuchte, sondern der auch unermüdlich darum warb, in den kleinsten Lebenseinheiten wie Familie/Beziehungen, stetig Friedens – und Freiheitsarbeit zu leisten.
Nicht selbstverständlich für einen Mönch und jemanden, der erst in der Mitte seines Lebens als spiritueller Lehrer hervortrat und der gleichzeitig nicht müde wurde, die Vorteile des Lebens in einer klösterlichen Gemeinschaft stets hervorzuheben. In meiner Wahrnehmung war diese für ihn der eigentliche Weg zu Zufriedenheit und Glück.
Dennoch gibt es zahllose Bücher, in denen er sich sehr liebevoll um die kleinen Belange unseres westlichen Alltags kümmerte. Eines der Resultate daraus war „mindfulness“ – hieraus ist eine ganze Bewegung entstanden, „MBSR“ und ähnliches hätte weitaus weniger Wirkung gehabt ohne diesen kleinen, leisen Mönch.
 
Eine weitere Brücke bestand für mich in seiner Lehre der Gehmeditation. Erst durch seine Anleitungen wurde mir klar, was das eigentlich ist: keine Pause zwischen den Zazen-Einheiten. Sondern eine Praxis an sich, überall verfügbar, einfach anzuwenden und doch (für mich) schwerer umzusetzen als die Meditation auf dem Kissen. Aus meinem heutigen Alltag ist das Kinhin nicht mehr wegzudenken, es bildet oft die Verbindung zwischen zwei Begegnungen, gleicht sie aus, bereitet mich vor, erdet mich. Gerade im Arbeitsalltag von unglaublichem Wert.

TNH hat nicht nur dies bewirkt, sondern durch seine Gehmeditation im Freien eine weitere Verbindung geschaffen, die das Zazen auf dem Kissen keineswegs mindert, sondern erweitert auf fast alle meine Lebensbereiche. Hatte ich vorher (schaudernd) gehört, dass „alles“ Meditation ist, gab er einen konkreten Hinweis darauf, wie das umzusetzen ist und noch dazu, ohne ständig von meinen Gedanken so gequält zu werden wie in meinen ersten Jahren auf dem Kissen.
Unvergessen die Rede, in der er seine Meditation in einem FastFood Restaurant schildert, auf dem Flughafen, inmitten einer großen, lauten Menschenansammlung vor einem Konzert.
 
Sein Umgang mit Gefühlen, insbesondere starken Emotionen. Wann immer ich wütend werde und diese Anflutung spüre, denke ich an seine Stimme und sein: „hello my litte anger...“ und oft, wenngleich nicht immer, muss ich dann erst einmal schmunzeln. Das reicht schon, um den vorgegebenen Weg aus körperlichen und geistigen Reflexen etwas zu unterbrechen und das allein ist oft bereits genug, um wieder abzukühlen.
 
Beruflich telefoniere ich viel, sehr viel. Das Fon ist mein Begleiter und es schellt zu jeder passenden und weniger passenden Gelegenheit. Ob ich gerade in ein Brot beiße, mir die Nase putze oder mich in einem schwierigen Gespräch befinde: es läutet unerbittlich. Gerade ein der zweiten Tageshälfe oder wenn ich müde den Tag beginne, kann es vorkommen, dass ich diesen kleinen Tyrannen verfluche. Nie lässt er ab, ständig will er gefüttert werden. Dann schimpfe ich mit ihm und wir beide hadern. Ich versuche dann, ihn zu ignorieren, ein Läuten, vier Läuten... (hört es vielleicht auf?), aber meistens verliere ich die Geduld und hebe ab.
Ich hebe zu 99% ab. Das ist mein Gelübde als Bodhisattva und davon weiche ich inzwischen auch nicht mehr ab. Aber: wie tue ich das?
Grummele ich meinen Namen? Sage ich nur kurz „ja!“ oder bemühe ich mich um eine freundliche Stimme, die demjenigen gerecht wird, der oder die sich, meist hilfesuchend, an mich wendet?

Dann denke ich an seine Telefonmeditation. Und muss wieder lächeln. Und wir beide sind wieder Freunde, das Fon, der Anrufende und ich. Insbesondere das Fon, denn es begleitet mich seit mehr als einem Jahrzehnt, es hat schon ein paar Kratzer wie auch ich, es ist mein Stethoskop zu jenen, die ich gerade nicht sehe, denen ich aber dennoch zur Verfügung stehen möchte. Und das ist ein Teil meines Berufes. Kein Grund zur Verärgerung. Oder?
 
Als letztes möchte ich erwähnen, dass wir zu Anfang der 90er Jahre TNH einmal in München im Rahmen einer Veranstaltung gesehen haben. Es war das einzige Mal. Wir waren zeitig dort und saßen relativ weit vorne. Während der Einleitungen fiel unser Blick auf den Seiteneingang. Er kam inmitten einer kleinen Gruppe von Mönchen an. Ich wusste nicht viel über ihn. Das meiste davon hatte ich nicht verstanden. Ich war neugierig, aber auch skeptisch. Und verblüfft: noch heute erinnere ich seinen Gesichtsausdruck am Eingang. Damals hat er mich beeindruckt aus unerklärlichem Grund, heute „weiß“ ich: er meditierte.
Später dann kam er auf die Bühne. Ich habe vergessen, worüber er sprach. Aber was ich auch nie vergessen werde, ist seine Verbeugung zu Beginn seines Vortrags: Thich Nath Hanh verschwand. Vollkommen. Wie der Reiher auf Dogens Schneefeld. Er tauchte wieder auf und: er meditierte weiter. Seinen gesamten Vortrag lang.

Mit all seiner Trauer über sein Exil, den Verletzungen, die ihm und den seinen zugefügt wurden, dem Leid der vielen Menschen in dem Vortragssaal, für die Ryokans Ärmel nicht reichen. In diesem kleinen, unscheinbaren und zarten Mann vibrierte zudem eine stählerne Entschlossenheit, fast Unbeugsamkeit. Das setzte seine Freundlichkeit in eine ganz andere Dimension.

Jetzt hier. Meinen Beitrag leisten. Zur Veränderung. Ein bisschen, Jeden Tag. Trotz allem. Mit allem.
Im Januar ist Thich Nath Hanh, dieser große Lehrer, in seinem Heimatkloster in Vietnam gestorben. Wir verneigen uns vor einem großen Menschen.
 
 Gassho, Juen


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Von hier nach dort

Von hier nach dort.
Weder hier noch dort.
Dort, hier.
Oder doch nicht?
 
Bis Januar haben wir uns mit Dogens „Fukanzazengi“ befasst. Ein kurzes, berühmt gewordenes Kapitel, in dem es unter anderem um unsere Haltung, unsere Herangehensweise zum Zazen und zu unserer Übung insgesamt geht.
 
„Strebe nicht danach, ein Buddha zu werden.
Übe Dich im Rückzug, wende das Licht nach innen und beleuchte das Selbst. Löse Dich von allen Bindungen und lass die zehntausend Dinge ruhen.“
 
Anstrengen oder nicht? Alles darauf setzen, meine gesamte Energie - oder die Dinge „kommen und gehen lassen“? Es ist Dogens Lebensfrage, die er sich bereits als junger Mönch stellte: wenn alles bereits vorhanden ist – wir angekommen sind und wach, wieso uns dann noch anstrengen?
„Die wahre Lehre ist frei verfügbar... im gesamten Universum gibt es nicht das kleinste Staubkorn. Warum sollten wir uns anstrengen, es zu fegen?“

Und doch und doch – wissen wir alle, dass dies nur die halbe Wahrheit darstellt. Um uns hinzusetzen, einzuloggen, ganz allgemein, um Zeit für unsere Praxis bereit zu stellen, sind Anstrengungen notwendig. Ganz zu schweigen von der täglichen Anstrengung, unser Leben als Bodhisattvas auszurichten und immer wieder neu dahin zu tarieren. Das ist unmöglich ohne Anstrengung, Willensstärke und Disziplin. Doch wie viel davon ist nötig, damit wir nicht ermüden oder abschweifen?

Wie halten wir es mit unserem Gleichgewicht zwischen Anspannung und Ent-Spannung?
Wann gelingt es uns, die zehntausend Dinge wahrzunehmen und ihnen zu folgen?
Welchen Geisteszustand benötige ich, um sie wahrzunehmen?
Für welche Ziele / Absichten strenge ich mich besonders gerne an, wann fällt es mit leicht?  
Was ist für mich schwieriger: Disziplin oder Loslassen (Entspannen / den Dingen zu folgen)?
 
Der alte Meister gibt uns in einem weiteren Kapitel auch hierüber Aufschluss:
Vor langer Zeit fragte ein Mönch einen alten Meister: „Wenn hunderte, tausende, zahllose Objekte alle auf einmal kommen, was soll ich tun?“
Der Meister antwortete: „Versuche nicht, sie zu kontrollieren.“
 
Dogens Kommentar:
Er meint, auf welche Weise auch immer die Dinge erscheinen, versuche nicht, sie zu verändern. Was immer dir begegnet ist das Buddhadharma und kein Objekt. Verstehe des Meisters Antwort nicht als eine nur dringliche Ermahnung, sondern erkenne, dass dies die Wahrheit ist. Selbst wenngleich Du versuchst, zu kontrollieren was kommt - es kann nicht kontrolliert werden.
 
Yuibutsu Yobutsu (Shobogenzo)
 
Wenn ich alles, von Kiesel bis Corona-Demo, von Tierwohl bis hin zu meinen Freundschaften, als „kein Objekt“, als Buddhas Lehre, Erscheinung und Handlungaufforderung zum Wohle aller erfassen kann, gibt es keine Frage, ob und wann ich mich wie anstrengen muss und wann eben nicht.
Es gibt nur ein großes Ich – überall, das frei nach Anlass flottieren und mit jedem Ding, das da kommt, eine Unterhaltung beginnen kann. Sei sie poetisch und assoziativ, sei sie praktisch und erdfarben. Im Buddhadharma ist Platz für alle und am besten zeigt sich dies in nahezu sekündlichen Wechselspiel auf dem Kissen:
Ein-aus. Anstrengen, lockern. Fokussieren, spielen. Rückzug, Marktplatz.
Eigentlich total spannend, dieses Leben!

Gassho, Juen


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