October 2019

Vom Großen Mitgefühl - absolut, relativ und vor allem: angewandt

Betritt man ein Zendo das erste Mal und lässt sich die „Hausordnung“ erläutern, erfährt man zunächst, was alles nicht üblich ist: Gespräche im Zendo, lautes Schneuzen, Schimpfen, andere beobachten. Danach folgt ein beträchtlicher Reigen der Anweisungen zur Körperhaltung: die Hände so halten, aber beim Gehen anders, im Zendo kein Blickkontakt, später schon. Ganz viel Schweigen und wenn es einmal piekst bei der Meditation, dann bitte auf eine bestimmte Art und Weise bewegen, so dass es die anderen nicht stört. Verbeugen halb, verbeugen ganz. Aber nicht immer!
Niemand steht mit einem Tablett mit warmen Plätzchen lächelnd im Eingang, benannte es einmal der Soto Zen-Lehrer Brad Warner.

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Tatsächlich aber sind Mitgefühl und liebende Güte tief in die Zen Praxis eingewoben.
Prajna, (Weisheit) eine der drei Säulen des Zen, wirkt beim Hören zunächst intellektuell, ehrfurchtgebietend und anstrengend.
Prajna jedoch, die „große Weisheit“ ist längst nicht nur kontinuierliche Retro- und Introspektion, wachsame Erfahrung und tiefe Praxis. Prajna bedeutet auch: mitfühlende Handlung. Sie erst macht den relativen Aspekt der Prajna sichtbar, ohne den auch der absolute Anteil nicht zum Tragen kommen wird.

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Im Zen wird hier häufig der Begriff Jihi verwendet, welcher „metta“ und „karuna“ miteinander verbindet. „Ji“ steht für liebevolle Handlung und „hi“ für Trauer oder einen seelischen Schmerz. Somit verbindet das Schriftzeichen zwei scheinbare Gegensätze.
Wir schulen uns in liebevoller Handlung und wir üben die Bereitschaft zu einer Öffnung gegenüber dem Schmerz der anderen. Wir sind bereit, ihn und unseren eigenen Schmerz zu spüren. Diesen wie unseren eigenen zu empfinden. Das ist auch eine Aufforderung dazu, uns berühren und verwandeln zu lassen.

Thich Nath Hanh sagte dazu, dass Mitgefühl zuallererst eine Bewegung unseres Herzens bedeutet. Er bezeichnet Mitgefühl als Verb. Somit besteht die Praxis des Mitgefühls nicht nur in der Linderung von Leid, wie unsere Bodhisattva-Gelübde veranschaulichen, sondern sie stellt auch eine gute Medizin gegen jegliches Polarisieren dar. Sie vermag es, dualistisches Denken und Hindernisse abzubauen, die wir durch Vorurteile, Ignoranz und Furchtsamkeit errichtet haben.

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Im Zen sprechen wir von absolutem und relativem Mitgefühl. Das absolute Mitgefühl findet sich im Herzsutra veranschaulicht: Leiden ist an sich leer, ebenso ein Freisein davon. Das jedoch ist nur die eine Seite.
Die andere besteht darin, auf die unzähligen Begebenheiten eines jeden Tages möglichst weise und mitfühlend eine Antwort zu versuchen. Hier befinden wir uns am anderen Ende des Kontinuums von Leere: menschliche Wärme, offene Begegnungen und auch eine gewisse strenge Milde gegenüber unseren eigenen Fehlern machen dieses Mitgefühl erst vollständig. Es ist der lebendige und in jedem Moment neu hervorzubringende Tanz zwischen dem, was die Zen-Pioniere Shunryu Suzuki und Dainin Katagiri mit „returning to silence“ sowie „you have to say something“ bezeichneten.

Cookies und no-Cookies, sozusagen. Alles klar?

Gassho, Juen und Nanzan

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Das neue tibetische Stadtzentrum

Am vergangenen Wochenende reisten Wind und Wolken nach Hamburg, wo im neuen Stadtzentrum des Tibetischen Zentrums Hamburg ein abendlicher Vortrag sowie ein Tagesseminar mit Juen stattfanden. Während der abendliche Vortrag im Rahmen der Hospizwoche diese Arbeit insbesondere unter dem Aspekt der Wahrnehmung seitens der Sorgeempfänger und der sie Umsorgenden beleuchtete, bot das Tagesseminar den Rahmen für eine etwas intensivere Beschäftigung mit Elementen beider Traditionen im Hinblick auf Wandel und Vergänglichkeit. Zudem gab es genügend Raum für einen gegenseitigen Austausch, der erfreulich rege wahrgenommen wurde.

Das Anwesen, mitten in einem Wohngebiet und in direkter U-Bahn-Nähe gelegen, wurde erst vor Kurzem eröffnet. Es liegt sehr zentral und doch ruhig und ist mit 400 Quadratmetern und einem kleinen Wintergarten sowie einem kleinen Vorgarten ausgestattet. Das Haus bietet auf drei Ebenen üppigen Raum für Seminare, regelmäßige Meditation und vieles mehr.

Wir freuen uns mit dem Tibetischen Zentrum, dass sie nun, nach dem seit vielen Jahrzehnten bestehendem Haus in Berne und ihrem Meditationshaus in Niedersachsen (Semkye Ling) ein so schönes Stadtzentrum gefunden haben und danken ganz herzlich für die Einladung!

Gassho,
Juen


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Kalligraphie im Norden

Nach mehr als einem Jahrzehnt…

… endete an diesem Wochenende der traditionell bisher jährlich stattfindende Kalligraphiekurs mit Kazuaki Tanahashi. 
Es ist sein letzter Kurs in der Europäischen Akademie gewesen und so schwang etwas Wehmut sowie viele Erinnerungen mit dem Herbstlaub und den tanzenden Regentropfen in unser Papier. 

Es war ein ausgesprochen runder, wie immer sehr gut besuchter Kurs mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus ganz Deutschland, ausgewählten Lesungen zu Dogen und einer erstmalig in dieser Form stattfindenden Korrekturmöglichkeit für die entstandenen Arbeiten. 

Das lange Wochenende nahm wie immer seinen fulminanten Abschluss mit beindruckenden Arbeiten auf Großformat.

Herzlichen Dank an den Meister für all die schönen Striche, Töne, Ausblicke und alles, alles Gute!

Gassho,
Juen



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Großes Herz - weiter Horizont

Juens drittes Buch ist erschienen!
Großes Herz - weiter Horizont
eine Einführung in die Zen-Meditation
244 Seiten, 19,90 €
ISBN/ISSN: 9783942085700





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Der zinnoberrote Faden

Meister Songyuan Chongyue (12. Jhdt.) sprach zur Versammlung:
„Um den Weg in vollkommener Klarheit zu verwirklichen, müsst ihr einen wesentlichen Punkt durchdringen, ohne ihm auszuweichen:
Der zinnoberrote Faden kann nicht durchtrennt werden.
Nur wenige nehmen sich dieser Aufgabe an, sie ist nicht leicht zu lösen.
Stellt euch ihr, ohne zu zögern. Wie sonst soll die Befreiung kommen?“

Eine der traditionellen Auslegungen lädt dazu ein, diesen roten Faden, der auch als blutroter Faden bezeichnet wird, in einer vertikalen Dimension zu verstehen: unsere Verbindung zu unseren spirituellen Vorfahren, wie sie auch im Rahmen der Jukai-Zeremonie anhand der Blutlinie der Ahnen deutlich wird. Dieser Faden, das sind alle, die vor uns diesen Weg gegangen sind, aber auch unsere biologische Familie. Und alle, die nach uns kommen werden! Eine untrennbare Verbindung vertikal durch alle zeitlichen Ebenen.

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Auch in einer horizontalen Dimension gibt es eine Verbindung, einen Fluss, der untrennbar ist: unsere Verbindung mit anderen Menschen, mit allen fühlenden Wesen! Auch mit den Dingen, die unserere Wirklichkeit füllen und lebendig machen: ob Dogens „Gräser und Steine“, Reiskörner in Dogens „Anweisungen für den Koch“ oder Ryokans Schale. Im Bild von Indras Netz sind alle miteinander verbunden, ist alles verbunden. Wir bewegen uns mit anderen, sie mit uns. Indem wir mit anderen Menschen in eine Begegnung eintreten, lassen wir auch zu, dass wir selbst verändert werden. Dogen nannte dies „eine Dharmablume dreht eine Dharmablume“. Es ist ein Weg, die vielbeschworene Soheit sichtbar zu machen. Er ist heute so bedeutend wie damals. Die untrennbare Verbundenheit mit anderen immer in Erinnerung zu halten, ist wichtig in einer Tradition, die bisweilen etwas einseitig ein Idealbild des einsam in Abgeschiedenheit Praktizierenden pflegt. Das Leben Ryokans kann uns hierbei ein gutes Beispiel sein.

Der zinnoberrote Faden meint aber auch unser (noch) treu pumpendes Herz, die Verbindung zu unser eigenen Humanität, mit allem, das dazu gehört: Schmerz und Trauer wie Lachen und Freude, alle Verletzbarkeit, Leidenschaft, Verrücktheit, Sentimentalität - wie auch Leichtigkeit und Klarheit. Ohne diese, durch unsere Praxis immer dichter werdende Begegnung mit uns selbst, kann auch eine Verbindung nach „außen“ nicht tiefer werden. Wir bleiben, allen Errungenschaften auf diesem Weg zum Trotz, Menschen mit genau dieser Eigenschaft: wir bleiben Subjekt und Objekt von Ursache und Wirkung. So lange wir hier sind. Wir können dem nicht entrinnen.

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In der Übertragung des Zen wird die Hinwendung zum Absoluten, zur Leere, nachdrücklich betont. Das ist richtig und wird im besten Fall einen vollkommen neuen, frischen Blick auf unser gesamtes Leben eröffnen. Jedoch ist diese Leere nur weit genug und damit tragfähig, wenn in ihr Platz ist für „Form“, für alles „Relative“, für die zehntausend Dinge, für Empfindung, Gefühl, für das uralte Wirken des Karma.
Daher ist es so wichtig, dass wir nie vergessen mögen, dass wir durch den zinnoberroten Faden auf vielfältige Wiese verbunden bleiben. Wir sind eingeladen, diese rote, pulsierende Lebensader in unsere Praxis miteinzubeziehen, uns an ihr zu freuen und uns auch durch sie leiten zu lassen.

Gassho,
Juen und Nanzan

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