October 2024
Über die Freiheit der Leere
20.10.2024
Im Herzsutra heißt es:
„Oh, Shariputra, Grenzenlosigkeit ist aller Dinge wahre Natur. Sie entstehen weder noch vergehen sie, sie sind weder unrein noch rein, weder zu- noch abnehmend.
Leere ist nicht beschränkt durch Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden.
Sie ist frei von Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, frei von Form, Klang, Geruch, Geschmack, Berührung, Gedankeninhalt, frei von der Welt der Sinne und der Welt des Geistes.
Sie ist frei von Nichtwissen und dem Ende des Nichtwissens.
Leere ist frei von Alter und Tod, frei vom Ende von Alter und Tod.“
Und so wurde vor zweitausend Jahren die seit in etwa fünf Jahrhunderten elaborierte buddhistische Lehrmeinung mit einem Federstrich in Frage gestellt...
Leerheit, so wird hier ausgeführt, ist nichts von dem, was bis dato als die Grundfeste der Lehre Buddhas verstanden wurde: die drei Siegel des Buddhismus, zum Beispiel.
Vergänglichkeit (anicca), Leiden (dukkha), Nicht-Selbst (anatta).
Im Herzsutra aber heißt es: „frei von Entstehen und Vergehen, frei von unrein oder rein, frei von zu- oder abnehmendem Selbst.“
Shunyata ist weder beengt durch eine Vorstellung der Drei Siegel, noch durch irgendeine andere Lehrmeinung. Shunyata ist vielmehr: reine Zazen-Erfahrung. Mit Worten ist diese nur annähernd zu beschreiben, zumindest nicht als Prosa.
Und wenn wir uns an dieses Tor zur Befreiung erinnern, dann macht all das scheinbar Paradoxe in diesem ehrwürdigen Urtext auf einmal Sinn: natürlich gibt es Formen. Aber wenn wir uns auf unsere Erfahrung der eigenen Form berufen, haben wir Momente erlebt, in denen es schwer war, zu sagen, wo wir beginnen und enden. Und sind wir nicht gerade heute in unserem Zazen 20, 30 Jahre zurückgereist? Und war diese Erfahrung nicht „echt“? Gehört die Luft, die ich einatme, zu meiner Form? Was ist mit der Pizza von gestern? Der Bank, auf der ich gerade sitze?
Auch das gehört zur Leere wie auch zur Lehre: Verunsicherung. Fragen. Fragen stehen lassen und sie beobachten. Mich durch Fragen bewegen, erschüttern und transformieren lassen. Zur Frage werden, bis es keine Frage mehr gibt.
Mich der großen Frage meines Lebens widmen, wissend, dass ich sie niemals werde in Worten beantworten können.
Außer durch meine Begegnung mit ihr.
In der einen großen Frage, die sich „mein Leben“ nennt.
Dank unserer Praxis wird es zu „Leben“ werden: einem Dasein, in dem vor allem meine Begegnungen, meine Berührungen, meine Brückenschläge es sind, die Form und Leere ein Gesicht, ein Lächeln und eine Würde verleihen, die alle Fragen nach Sein und Nicht-Sein in Vergessenheit treten lassen wird.
„Oh, Shariputra, Grenzenlosigkeit ist aller Dinge wahre Natur. Sie entstehen weder noch vergehen sie, sie sind weder unrein noch rein, weder zu- noch abnehmend.
Leere ist nicht beschränkt durch Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden.
Sie ist frei von Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, frei von Form, Klang, Geruch, Geschmack, Berührung, Gedankeninhalt, frei von der Welt der Sinne und der Welt des Geistes.
Sie ist frei von Nichtwissen und dem Ende des Nichtwissens.
Leere ist frei von Alter und Tod, frei vom Ende von Alter und Tod.“
Und so wurde vor zweitausend Jahren die seit in etwa fünf Jahrhunderten elaborierte buddhistische Lehrmeinung mit einem Federstrich in Frage gestellt...
Leerheit, so wird hier ausgeführt, ist nichts von dem, was bis dato als die Grundfeste der Lehre Buddhas verstanden wurde: die drei Siegel des Buddhismus, zum Beispiel.
Vergänglichkeit (anicca), Leiden (dukkha), Nicht-Selbst (anatta).
Im Herzsutra aber heißt es: „frei von Entstehen und Vergehen, frei von unrein oder rein, frei von zu- oder abnehmendem Selbst.“
Shunyata ist weder beengt durch eine Vorstellung der Drei Siegel, noch durch irgendeine andere Lehrmeinung. Shunyata ist vielmehr: reine Zazen-Erfahrung. Mit Worten ist diese nur annähernd zu beschreiben, zumindest nicht als Prosa.
Und wenn wir uns an dieses Tor zur Befreiung erinnern, dann macht all das scheinbar Paradoxe in diesem ehrwürdigen Urtext auf einmal Sinn: natürlich gibt es Formen. Aber wenn wir uns auf unsere Erfahrung der eigenen Form berufen, haben wir Momente erlebt, in denen es schwer war, zu sagen, wo wir beginnen und enden. Und sind wir nicht gerade heute in unserem Zazen 20, 30 Jahre zurückgereist? Und war diese Erfahrung nicht „echt“? Gehört die Luft, die ich einatme, zu meiner Form? Was ist mit der Pizza von gestern? Der Bank, auf der ich gerade sitze?
Auch das gehört zur Leere wie auch zur Lehre: Verunsicherung. Fragen. Fragen stehen lassen und sie beobachten. Mich durch Fragen bewegen, erschüttern und transformieren lassen. Zur Frage werden, bis es keine Frage mehr gibt.
Mich der großen Frage meines Lebens widmen, wissend, dass ich sie niemals werde in Worten beantworten können.
Außer durch meine Begegnung mit ihr.
In der einen großen Frage, die sich „mein Leben“ nennt.
Dank unserer Praxis wird es zu „Leben“ werden: einem Dasein, in dem vor allem meine Begegnungen, meine Berührungen, meine Brückenschläge es sind, die Form und Leere ein Gesicht, ein Lächeln und eine Würde verleihen, die alle Fragen nach Sein und Nicht-Sein in Vergessenheit treten lassen wird.
Form und Leere
20.10.2024
Noch immer erfreuen wir uns in unserer Sangha am Studium des Herzsutras:
...“Oh, Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist Leere; Leere ist Form. So ist es mit Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden“.
Hier listet Shariputra die fünf Aspekte der menschlichen Existenz auf (skandhas), die im Deutschen auch mit „Aggregaten“ oder „Daseinsgruppen“ übersetzt werden.
Zweifelsohne haben wir eine bestimmte Gestalt, eine Form. Wir haben Empfindungen, wir geben unseren Wahrnehmungen einen Namen. Wir streben nach bestimmten Dingen und Aspekten. Wir sind in der Lage, Zusammenhänge, die sich unserer direkten Wahrnehmung entziehen, voneinander zu entscheiden. Wir bilden bestimmte Werte aus, wir formen eine innere Haltung.
Was daran ist „leer“?
Diese Leerheit ist keine keimfreie Ödnis. Sie ist auch nicht ohne „etwas“. Sie ist nur frei von etwas. Einem unveränderbaren Kern, zum Beispiel.
Von außen betrachtet, ist unser Gefühlsmodus vielleicht meistens gleich. Wir stehen auf, machen uns fertig, gehen zur Arbeit, telefonieren, sprechen mit vielen Menschen, freuen uns auf dem Nachhauseweg an der Herbstfärbung oder auf den Feierabend.
Ein normaler Tag.
Wenn wir aber still werden, so leise wie im Zazen, dann können wir unsere jeweilige Klangfarbe oft ganz anders erleben als im Rauschen der vielen Handgriffe, die nun einmal unseren Alltag formen. Vielleicht überkommt uns eine burgundfarbene Melancholie oder ein ungeahntes Ausmaß an Schwermut. Vielleicht auch eine unbändige Freude. Dies geschieht einfach, es ist plötzlich da, kommt aus der Stille wie der Mond hinter den Wolken. Ohne dass wir beide Empfindungen mit einem Anlass in Zusammenhang bringen können. Sie verweilen etwas bei uns, wir schwingen mit – und dann verklingen sie. Wenn wir noch stiller werden, stellen wir fest, dass diese Klangfarben in nur einer Meditationseinheit eng beieinander liegen können. Dann geht der Gong und wir sind wieder „ich“. So wie „immer“. Wirklich?
In Wahrheit sind wir nie gleich, weder als Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen noch Unterscheiden.
Wir sind auch nicht einmal „leer“ und einmal „reich an allem, was es gibt“. Wir verfehlen Shunyata, wenn wir den Theorien Glauben schenken (und derer gibt es einige), dass wir danach streben sollten, „leer“ von irgendetwas zu sein, am besten von uns selbst. Dies würde bedeuten, dass wir an der geistigen Landkarte der Wirklichkeit festhalten und das Konzept der Leerheit darüberlegen. Einer Leere, die oft eine negative Konnotation aufweist.
Es ist nicht: ich hier, als (armselige) Gestalt. Das zu Erstrebende dort, als Nicht-Sein. Wir hier im Jammertal der Dinge und Formen. Die wenigen Auserwählten dort, im Himmelblau des Absoluten.
Kurz bevor Zen Meister Ninakawa starb, besuchte ihn Zen Meister Ikkyu.
„Soll ich Dich anleiten?“ fragte Ikkyu.
Ninakawa antwortete: „Allein kam ich her. Allein gehe ich. Welche Hilfe könntest Du mir geben?“
Ikkyu antwortete: „Wenn Du denkst, dass Du wirklich kommst und gehst, ist dies Deine Verblendung. Erlaube mir, Dir den Pfad zu zeigen, auf dem es weder Kommen noch Gehen gibt.“
Mit diesen Worten zeigte Ikkyu den Weg so klar, dass Ninakawa lächelte und verschied.
...“Oh, Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form. Form ist Leere; Leere ist Form. So ist es mit Empfindung, Wahrnehmung, Wollen und Unterscheiden“.
Hier listet Shariputra die fünf Aspekte der menschlichen Existenz auf (skandhas), die im Deutschen auch mit „Aggregaten“ oder „Daseinsgruppen“ übersetzt werden.
Zweifelsohne haben wir eine bestimmte Gestalt, eine Form. Wir haben Empfindungen, wir geben unseren Wahrnehmungen einen Namen. Wir streben nach bestimmten Dingen und Aspekten. Wir sind in der Lage, Zusammenhänge, die sich unserer direkten Wahrnehmung entziehen, voneinander zu entscheiden. Wir bilden bestimmte Werte aus, wir formen eine innere Haltung.
Was daran ist „leer“?
Diese Leerheit ist keine keimfreie Ödnis. Sie ist auch nicht ohne „etwas“. Sie ist nur frei von etwas. Einem unveränderbaren Kern, zum Beispiel.
Von außen betrachtet, ist unser Gefühlsmodus vielleicht meistens gleich. Wir stehen auf, machen uns fertig, gehen zur Arbeit, telefonieren, sprechen mit vielen Menschen, freuen uns auf dem Nachhauseweg an der Herbstfärbung oder auf den Feierabend.
Ein normaler Tag.
Wenn wir aber still werden, so leise wie im Zazen, dann können wir unsere jeweilige Klangfarbe oft ganz anders erleben als im Rauschen der vielen Handgriffe, die nun einmal unseren Alltag formen. Vielleicht überkommt uns eine burgundfarbene Melancholie oder ein ungeahntes Ausmaß an Schwermut. Vielleicht auch eine unbändige Freude. Dies geschieht einfach, es ist plötzlich da, kommt aus der Stille wie der Mond hinter den Wolken. Ohne dass wir beide Empfindungen mit einem Anlass in Zusammenhang bringen können. Sie verweilen etwas bei uns, wir schwingen mit – und dann verklingen sie. Wenn wir noch stiller werden, stellen wir fest, dass diese Klangfarben in nur einer Meditationseinheit eng beieinander liegen können. Dann geht der Gong und wir sind wieder „ich“. So wie „immer“. Wirklich?
In Wahrheit sind wir nie gleich, weder als Form, Empfindung, Wahrnehmung, Wollen noch Unterscheiden.
Wir sind auch nicht einmal „leer“ und einmal „reich an allem, was es gibt“. Wir verfehlen Shunyata, wenn wir den Theorien Glauben schenken (und derer gibt es einige), dass wir danach streben sollten, „leer“ von irgendetwas zu sein, am besten von uns selbst. Dies würde bedeuten, dass wir an der geistigen Landkarte der Wirklichkeit festhalten und das Konzept der Leerheit darüberlegen. Einer Leere, die oft eine negative Konnotation aufweist.
Es ist nicht: ich hier, als (armselige) Gestalt. Das zu Erstrebende dort, als Nicht-Sein. Wir hier im Jammertal der Dinge und Formen. Die wenigen Auserwählten dort, im Himmelblau des Absoluten.
Kurz bevor Zen Meister Ninakawa starb, besuchte ihn Zen Meister Ikkyu.
„Soll ich Dich anleiten?“ fragte Ikkyu.
Ninakawa antwortete: „Allein kam ich her. Allein gehe ich. Welche Hilfe könntest Du mir geben?“
Ikkyu antwortete: „Wenn Du denkst, dass Du wirklich kommst und gehst, ist dies Deine Verblendung. Erlaube mir, Dir den Pfad zu zeigen, auf dem es weder Kommen noch Gehen gibt.“
Mit diesen Worten zeigte Ikkyu den Weg so klar, dass Ninakawa lächelte und verschied.
Hospizwoche in Hamburg
11.10.2024
Wir waren diese Woche im Rahmen der Hamburger Hospizwoche im Tibetischen Zentrum Hamburg, Standort Güntherstraße eingeladen.
Wir wurden von unseren Freunden im Dharma sehr gastfreundlich empfangen und durften uns über eine rege Diskussion zum Thema "belastende Emotionen am Lebensende" freuen.
Herzlichen Dank an die Gastgeber und alle, die gekommen sind!
Wir wurden von unseren Freunden im Dharma sehr gastfreundlich empfangen und durften uns über eine rege Diskussion zum Thema "belastende Emotionen am Lebensende" freuen.
Herzlichen Dank an die Gastgeber und alle, die gekommen sind!