May 2020

Dongshan fühlt sich krank

Eines Tages, als Dongshan sich krank fühlte, fragte ihn ein Mönch: „Du bist krank, Lehrer. Gibt es jemand, der nicht krank wird?“
Dongshan antwortete: „Ja, da gibt es jemanden.“
Der Mönch fragte: „Kümmert sich derjenige, der nicht krank wird, um Dich?“
Dongshan sagte: „Ich kümmere mich um ihn.“
Der Mönch: „Und wie kümmerst Du Dich um ihn?“
Dongshan: „Ich erkenne, dass er ohne Krankheit ist.“
(aus: Cleary; Book of Serenity, Fall 94, Tanahashi/Loori; Dogen’s 300 Koans, Fall 98)

Dongshan Liangjie (japanisch: Tozan Ryokai) lebte in 9. Jhdt. zur Zeit der Tang-Dynastie. Er hat den Text des „Lied des Juwelenspiegel-Samadhi“ verfasst.
Als spirituell Suchender reiste er von einem Lehrer zum nächsten. Als er eines Tages durch einen Fluss watete, erkannte er sein Spiegelbild im Wasser und erwachte. Was hat er damals in seiner Reflexion erkannt?

Im „Juwelenspiegel-Samadhi“ rezitieren wir: „Beim Anblick eines Juwelenspiegels sehen Form und Abbild einander. Du bist es nicht, doch in Wahrheit ist es Du.“

Im Zen wird häufig von Spiegelbildern und Reflexionen gesprochen. Das Bewusstsein wird oft als Spiegel interpretiert, der die Wirklichkeit reflektiert. Ja, dies stimmt, aber das ist noch zu einseitig und noch nicht die ganze Wahrheit, könnte man sagen.

Als Dongshan damals ins Wasser sah, erkannte er, dass Form und Abbild nicht unabhängig voneinander existieren können, sondern immer gemeinsam hervortreten. So ist es auch mit unserem Spiegel-Bewusstsein und den 10.000 Dingen: was wir als unser Selbst wahrnehmen kann nicht ohne das sogenannte andere da draußen existieren. Wir sind alle verbunden und bringen uns gemeinsam hervor. Welche Wahrheit in einer Zeit der Spaltung und Abgrenzung!

Ähnliches gilt für die (vermeintliche) Dualität von krank vs. gesund:
Wir alle sind immer wieder einmal krank, oft vorübergehend und linde, manchmal aber bleibend und schwer.

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Nicht selten nimmt uns unser Kranksein dann vollständig ein und fordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Unsere Übung bleibt in solchen Momenten gern auf der Strecke und wir vergessen all unsere guten, edlen Vorsätze. Unser Kopf ist vollständig mit dem Kranksein beschäftigt. Wir werden ängstlich und missmutig. Oder aber wir ignorieren die Tatsache, dass wir krank sind (so dies möglich ist) und machen so weiter, wie gewohnt mit unserem geschäftigen, kompliziert-komplexen Leben. Manchmal gelingt uns dies mit großer Anstrengung. Wir warten, dass die Krankheit vorübergehen möge und wir wieder gesund sind. Manchmal fürchten oder wissen wir aber, dass wir nicht wieder ganz gesund werden. Dann mag uns unsere Übung wie ein Traum, ein Luxus erscheinen.

Dongshan ist krank, der Überlieferung nach auf dem Sterbebett, sein Körper mag nicht mehr, wie gewohnt. Doch Dongshan ist auch nicht krank: da ist jemand, der nicht krank ist. Dongshan ist mit dieser Person in Kontakt. Sein Schüler stellt ihm eine sehr gute Frage: „Kümmert sich diese Person, die nicht krank ist, um Dich?“ Mit anderen Worten: „Bewahrt Dich Dein freier, starker, erwachter Zen-Geist vor Deiner Erkrankung?“
Daher kommt Dongshans Antwort etwas überraschend: Nein. Er kümmert sich nicht um mich. Ich kümmere mich um ihn.

Daher ist Zazen ein so guter Lehrer. Obgleich oft anstrengend und schwierig, gibt uns Zazen einen sicheren Rahmen, um die Person, die nicht krank ist, zu treffen. Dann können wir vielleicht allmählich erkennen, dass die, die krank ist und die, die nicht krank ist, schon immer zusammen waren, einander auf das intimste vertraut und tatsächlich eins sind. Dass Form und Abbild einander sehen. Immer schon, immer wieder und für immer. Dass wir, absolut betrachtet, alle krank und alle heil sind. Dazwischen webt sich unser menschliches Leben.

Gassho,
Juen & Nanzan

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Die gesamte Welt ist Medizin

In den vergangenen Wochen haben wir versucht, mit der Metapher des „Fallens“ mit einer für uns allen neuen Situation zu üben.
Was hält mich jetzt, wo alles außenherum sich verändert?
Wie kann ich mit meinen eigenen Unsicherheiten üben?
Wie kann ich meine starken Emotionen verwandeln, Wut auf „die anderen“, Furcht vielleicht, selbst schwer zu erkranken und Furcht, wirtschaftliche Einbußen hinnehmen zu müssen. Auch Trauer oder zumindest Traurigkeit darüber, dass es auf absehbare Zeit einiges Liebgewonnenes in den uns bekannten Formen nicht mehr geben wird, im gesellschaftlichen Leben zum Beispiel: Sport, Kultur, Restaurants, Reisen.
In Hinblick auf unsere beruflichen Tätigkeiten sind teilweise erhebliche Veränderungen auf uns zugekommen, die bleiben werden. Dieser Prozess ist zudem noch lange nicht zu Ende. Auch die Treffen unserer Sangha sind betroffen oder vielleicht Retreat-Zentren, die ich gerne besucht habe, und die sich ab jetzt erheblich verändern müssen.

Wie immer, so kann in alledem auch eine Chance liegen.
Das bedeutet keinesfalls, es gäbe irgendeinen Ruhm darin, dass Menschen, auch vorher gesunde in unserem Alter, einfach so sterben, weltweit und Menschen plötzlich arbeitslos werden.
Niemand möchte das. Dennoch welken die Blätter, auch wenn wir es nicht mögen.

Was also tun?
Zunächst und nunmehr für alle ersichtlich: der Spruch auf unserem Han über die „Große Angelegenheit“ ist hautnah an uns herangetreten. Diese befindet sich nicht mehr in Somalia oder in einer fernen Provinz in China. Sondern in Kiel, New York, Mailand. Orte, die wir kennen, die wir besucht haben. Die Große Angelegenheit von Leben und Tod sitzt seit spätestens Anfang März in unserem Wohnzimmer. Es könnte uns treffen. Mit der zweiten Welle. Oder vielleicht der dritten.
Plötzlich kommt unser gesamtes Leben auf den Prüfstand. Wie falle ich zum letzten Mal?
Welche Samen habe ich in der Vergangenheit genährt? Was wäre noch zu tun?

Aber auch gesellschaftlich ist gerade in den letzten Wochen eine interessante Diskussion darüber entstanden, ob sich „das Ganze für die paar Alten lohnt, die sowieso bald sterben müssen?“
Wie viel ist ein Leben wert?
Wie viel ist mir mein Leben wert?

„Medizin und Krankheit heilen einander. Die gesamte Welt ist Medizin. Was ist das Selbst?“
Meister Unmon, Hekiganroku, Fall 87

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Wie jemand von Euch treffend bemerkte: wir fallen immer. Und wir fliegen auch immer.
Die derzeitige Lage, sie wird uns bis weit ins Jahr 2021 hinein begleiten, zeigt auch deutlich eine elementare Praxiserfahrung: wir sind untrennbar verbunden. Die einzige Art, in dem allen zu sein, ist gemeinsam. Das war nie anders, jetzt ist es offensichtlicher.
Heilung, wach werden, ein erfülltes Leben führen, funktioniert niemals nur in eine Richtung.
In dem wir uns öffnen gegenüber all den obigen Emotionen, den Bildern, der familiären, nachbarschaftlichen, regionalen, nationalen und globalen Verbundenheit untereinander, haben wir bereits einen Impfstoff gefunden.
Ihn anzuwenden, wird schwerer sein als einen für Covid 19 zu designen, der zudem jährlich aufgefrischt werden muss. Unserer jedoch benötigt nur eine einmalige Applikation: immer.
Wir müssen nicht darauf warten. Nur lauschen und danach handeln.
Gute Medizin mag bitter schmecken, aber die selbstgewählte Disziplin, sich ihrer auf alltäglicher Basis zu stellen, birgt ein schier unendliches Heilungspotential – für uns alle.

Meister Unmon sagte zu seinen Schülern: „Die Welt ist unermesslich weit. Warum legen wir beim Klang der Glocke unsere siebenstreifige Robe an?“
Mumonkan, Fall 16

Gassho,
Juen & Nanzan

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Lingzhao hilft

Lingzhao hilft
China, 8. Jhdt.

Eines Tages waren der Laie Pang und seine Tochter Lingzhao unterwegs, um Bambuskörbe zu verkaufen. Als er von einer Brücke stieg, stolperte Pang und fiel hin. Lingzhao, die das sah, lief zu ihrem Vater und warf sich auf den Boden. 
»Was machst du da?«, rief Pang.
»Ich sah dich fallen, also helfe ich«, erwiderte Lingzhao. 
»Zum Glück hat es niemand gesehen«, bemerkte Pang.


Der Laie Pang und seine kleine Familie lebten im China des 8. Jahrhunderts und praktizierten mit großer Hingabe den Weg. Etliche ihrer Dialoge fanden Eingang in die Koan-Literatur, die oft auf humorvolle, auch exzentrische oder poetische Weise ihrer tiefen Einsicht Ausdruck geben, wobei es bemerkenswert ist, dass seine Tochter eine so prominente Erwähnung findet. Sie ist die am meisten zitierte und bietet oft die überraschendsten Antworten.

So auch dieses Koan, „Lingzhao hilft“, das sich z.B. in der schönen Sammlung „Das verborgende Licht“ (SteinRich Verlag, Berlin) wiederfindet.

Was können wir von dieser Geschichte lernen?
Es geht offensichtlich um Menschen, die stürzen, die hinfallen, die fallen.

Zunächst stürzt Vater Pang, dann seine Tochter Lingzhao. Der alternde Vater, der beim Hinabsteigen der Brücke stolpert und fällt: dies können wir uns gut vorstellen.

Es ist leicht, dies als Missgeschick zu verstehen: geflochtene Bambuskörbe, die in alle Richtungen fliegen, der Schreck, der harte Aufprall.
Wir alle kennen diese Erfahrung. Sie ist etwas, das uns nicht gefällt: „hoffentlich ist mir nichts passiert!“ Aber auch: „hoffentlich hat mich niemand gesehen!“

Vater Pangs Sturz kann nichts Gutes bedeuten: überraschend ändert sich die Situation, uns wird der Boden unter den Füßen weggezogen, wir verlieren Halt, Orientierung. Wir verlieren vielleicht für einen Moment nur die Kontrolle und finden uns plötzlich am Boden wieder: unser allzu sorgsam sortiertes Leben wird durcheinander gewirbelt, „Bambuskörbe“ in alle Richtungen.

Kommt Euch dies bekannt vor?
Wir fallen immer.

Als Lingzhao neben ihrem Vater hinfällt, versucht sie nicht, ihm auf herkömmliche Weise zu „helfen“. Sie wirft sich neben ihrem Vater auf den Boden. Sie reicht ihm nicht ihre Hand. Sie richtet ihn nicht auf. Sie versucht nicht, das Geschehene zu „verbessern“. Sie fällt ebenso und begibt sich damit in seine Situation, sprichwörtlich auf Augenhöhe. Sie sagt, sie helfe ihm.

Und wie sie ihm hilft!
Sie hilft ihm fallen: genau neben ihn. Ihrer beider Fall ist innig verbunden. Es ist ein Sturz in das Erwachen: hinein in den Fluss des Lebens

Hier befinden wir uns gerade alle, am Rand der „Großen Unsicherheit“.
Wir könnten in jedem Moment fallen. Wir versuchen es zu vermeiden, um jeden Preis, und dann: stürzen wir plötzlich! Sodann stolpern wir: in das, was wir nicht wissen und nicht vorhersehen können.

Fallen kann uns etwas lehren: dass unser Leben existentiell unsicher ist, unkontrollierbar und unvorhersehbar.

Wir fallen und unser Leben kommt uns entgegen. Wir rauschen ineinander: überraschend, unverblümt. Erwartungen, Illusionen, Fantasien, wie die Dinge eigentlich sein sollten, fallen plötzlich (kurz) ab.

Diese rührende, wenn auch vielleicht skurril anmutende Geschichte von Vater und Tochter kann Euch auf ganz verschiedene Weise berühren, es gibt hier kein richtig oder falsch.


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Auch in unserer Übung können wir uns dem Fallen als menschlicher Grunderfahrung widmen. Fallen in das Unbekannte, Ungewisse und unsere erste Reaktion darauf: Angst.

Natürlich betrifft uns dies in diesen Tagen aus aktuellem Anlass ganz besonders: Angst begegnet uns in uns selbst, in Menschen, die wir treffen und in den Medien in verschiedenen Schattierungen: diffuse Angst, Furcht, dass dies oder das passieren könnte. Ängstlichkeit, Verunsicherung, Haltlosigkeit, Panik.

Jemand sagte einmal, die allererste Angst des Menschen sei nicht die vor Schmerz oder Hunger, sondern die Angst vor dem Fallen. Wir können uns das gut vorstellen, ein tief verankerter Instinkt aus unserer Vorgeschichte, der uns das Überleben sicherte. Alle anderen Ängste ließen sich auf die Angst vor dem Fallen zurückführen.

Wie können wir mit ihr üben?
Der Buddha sagte, Furchtlosigkeit sei die Frucht der Übung. Dies klingt schön, ist aber schwer vorzustellen, vor allem: wie kommen wir zu ihr?

Die alten Lehren sagen uns nun etwas, was wir nicht so gern hören mögen:
Furchtlosigkeit lässt sich nur erfahren, wenn wir die Natur unserer Angst gut kennenlernen.
Mit anderen Worten: wir werden unsere Angst nicht einfach los, wir können sie nicht über Bord werfen, sondern: wir wenden uns ihr zu, werden ganz intim mit unserer Angst.

Dies ist viel verlangt: Angst zu spüren ist bereits herausfordernd genug, und dann sollen wir uns ihr auch noch zuwenden?
Unsere spontane Reaktion ist eben nicht: „Oh, ich kann es kaum erwarten, Angst zu haben!“

Wie können wir dies tun?
Das Wort Angst kommt von lat. „angustus“, eng, die Enge.

Wir können uns der ersten körperlichen Reaktion zuwenden, wenn wir Angst verspüren, sie wahrnehmen, sie beobachten.
Vielleicht spüren wir ein Unwohlsein, eine Enge der Kehle, des Magens. Vielleicht ein Schwitzen, Herzklopfen.

Meist setzt dann eine Sequenz ein, die von unserer persönlichen Gewohnheitsenergie diktiert wird:
Eine emotionale Reaktion: Ärger, Wut, Starre, Verzweiflung, Depression.
Vielleicht Gedankenspiralen: wir versuchen zu verstehen, analysieren. Wir versuchen, die Situation zu kontrollieren.
Danach folgt oft eine Handlung, um das Gefühl der Angst zu lindern: vielleicht Ablenkung, Essen, ein bisschen Alkohol, etc.

Unsere Aufgabe ist, dass wir wahrnehmen, was passiert, wenn wir Angst empfinden: es studieren, ohne zu werten. Wir bleiben dabei freundlich zu uns selbst.

Wichtig ist, dass wir den allerersten Anfang erkennen, den Moment, wenn Angst sich zeigt, und dann dabei bleiben, bevor unsere eigene, persönliche Gedanken- und Handlungsreaktion folgt.
Daher ist die Aufmerksamkeit, die aus unserer Meditationspraxis erwächst, hierbei so hilfreich.
Mit etwas Übung werden wir zutiefst vertraut mit unserer eigenen Verletzlichkeit – und können sie auch in anderen erkennen.

Denn immer fallen wir. Und immer fallen wir auch alle gemeinsam.
Weil wir Menschen sind.

„Lege Deine Angst in die Krippe der liebenden Güte.“ (Pema Chödrön)

„Lächle Deine Angst an.“ (Thich Nath Hanh)


Gassho, Juen & Nanzan


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