Überzeugungen: Feinde der Wahrheit

Seit Beginn der Herbst-Ango beschäftigen wir uns mit den Silas, den 16 Grundsätzen eines Bodhisattvas.
Diese Grundsätze gehören in unserer Tradition zu den kostbarsten Lehren. Sie beschreiben nicht weniger als ein gutes und gesundes Leben für uns selbst und andere. Wenn es etwas Konkretes weiterzutragen gibt von jenen, die vor uns diesen Weg gegangen sind, so sind es sie Silas.
In ihnen enthalten sind die „10 Grundsätze eines klaren Bewusstseins“. Der erste von ihnen lautet in der Übertragung unserer Tradition:
„Ich bin entschlossen, nicht zu töten, sondern alles Leben zu bewahren.“
Hierbei geht es nicht um die in diesem Zusammenhang oft aufgebrachte Frage: Fleisch essen oder nicht? Es geht auch nicht darum, wie wir in einer Extremsituation der Bedrohung reagieren würden oder sollten.

Es geht vielmehr darum, wie wir „nicht tötend“ leben können.
Wo liegt der innere Ort, an dem ich Leben bewahre? Der erste Grundsatz hält uns dazu an, die zahllosen Arten zu erforschen, in denen wir töten: verdrängen, negieren, übersehen, wegwischen, missachten, distanzieren, offen ablehnen, verachten, polarisieren – zum Beispiel.
Der Grundsatz ruft uns dazu auf, all die vielen, die großen wie die subtilen, die lange bekannten wie die kaum notierten Anteile unserer selbst anzusehen. Freundlich, unverblümt und in der Helle des Tages. Wie eine Muschel am Sonntagsstrand. Diese Teile sind unsere Schätze. Durch sie führt der Weg in die Freiheit, unsere Freiheit.
Wie zeigt sich dieses Töten in meinem Alltag?

Alle unheilsamen Emotionen entstehen, weil ich mir nicht gestatte, sie ins Licht zu rücken. Weil ich sie ausschließe und als „fremd“ erachte. Diese Trennung ist Töten in seiner ersten, seiner rohesten Form. Hier wird getötet, lange bevor ich jemanden als meinen Feind erachte, lange bevor ich auf die Straße gehe und Parolen von mir gebe.
Hier wird eine Identität aufgebaut, die immer wieder aufrecht erhalten und mit viel Energie erneuert werden muss. Sie bildet den sicheren Weg ins dauerhafte Leiden für mich und andere.
Sie tötet und stiehlt vom einzigen, was wir wirklich unser eigen nennen können: den jetzigen Augenblick. Dem Leben, diesem Leben, unserem Leben.
Denn Leben ist nicht Töten.

Leben ist Steine, Blumen, herabfallende Blätter, Bücher, Lachen, Trauer, Gesang, Abschied, Haferflocken, Sterne am Nachthimmel, das Papier am Boden, Wäsche im Abendwind.
Leben ist auch: der Täter in uns.
Töten ist meine Weigerung, Leben zu erhalten.
Es ist auch meine Weigerung, unser eigenes, unser unermessliches Leiden zu Lebzeiten beenden. Mehr noch, es ist der freiwillige Verzicht auf mein großes Potential, meine Entwicklung, meine grundlose Lebensfreude und Energie, auf mein Glücklichsein bei grauem Himmel und bei Sonnenschein, auf meine Freude am Dienen und meine Leichtigkeit des Seins.
Wir haben es in der Hand, diese Waffe routiniert gegen uns zu richten oder sie zu befrieden.

Wir wissen, dass die Buddha-Ahnen aus alter Zeit das Abenteuer jeden Tages nicht vernachlässigt haben. Du solltest auch täglich darüber nachdenken.
Sitze neben einem hellen Fenster und denke darüber nach, an trüberen und an blumenvollen Tagen. Sitze in einem schlichen Gebäude (und denke daran), erinnere es an einem verregneten, einsamen Abend... Welche Art von Feind ist der Lauf der Zeit? Wie bedauerlich, Deine Zeit zu vergeuden wegen Deiner fortwährenden Zerstreuungen.
Wenn Du Dich selbst nicht kennenlernen möchtest, wirst Du nicht dazu in der Lage sein, Dir ein Verbündeter zu sein in diesem edlen Unterfangen.
Dogen Zenji, aus dem Shobogenzo

Gassho, Juen

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