Ein Strauch, ein Traum und große Weite

I

Am Ende eines Dialoges mit seinem Schüler und Förderer zeigte Meister Nansen auf einen Blumenstrauch und sagte: „Heutzutage sehen die Menschen solche Blumen wie im Traum.“ (Hekiganroku, Fall 40)

Zuvor hatte sich sein Schüler Rikuko erfreut über einen von ihm gelesenen Satz gezeigt, der die Einheit allen Seins beschrieb. Fast zärtlich beantwortet sein Lehrer diese Bemerkung, indem er ihn nicht barsch ob seiner angelesenen Weisheit zurechtweist, sondern, fast beiläufig und verallgemeinernd, in den Garten abschweift, wo ein blühender Strauch zu sehen war. Ein Strauch, der nur mit unseren Sinnen erfahrbar ist, nicht mit unserem Intellekt. Ein Strauch, der uns sanft, aber unmissverständlich dazu auffordert, den Sprung zu wagen weg von unseren Büchern und Kalendersprüchen mitten hinein in all das, was uns täglich vor Augen kommt: für uns hervorgebracht, um zu sehen, riechen, fühlen, schmecken und zu hören.

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Was heißt es, in einem Traum zu leben?
Was hält uns darin?
Was braucht es, um daraus aufzuwachen?

Nicht selten sind es eher unangenehme Dinge, die uns daraus aufschrecken lassen. Wir alle haben Situationen durchlebt, in denen sich unser Leben roh und nackt anfühlt. So schmerzhaft und kühl sich dies auch anfühlen mag - natürlich gibt es auch den erfreulicheren, meist jedoch nur kurz währenden Gegenpart - wir stehen in dichtem Austausch mit uns und allen anderen. Wir halten dann meistens die Luft an, bis wir nach einer Weile wieder zurückgleiten in unseren Traum.

Wie können wir auf alltäglicher Ebene die Momente, in denen wir meist nur kurz daraus aufschrecken, zu einem Normalzustand werden lassen, der uns weit mehr zurückgeben wird als unser eigenes Leben? Der Traum besteht aus wenig mehr als einer Illusionswelt, die unsere Identität für ihren Erhalt permanent benötigt und somit der Erfahrung des gegenseitigen Verbundenseins, der Einheit entgegensteht.

Gleichzeitig steht die Metapher des Traumes für Flüchtigkeit, Veränderung, für Bewegung. Der Traum als Chance. Als Gelegenheit zum Nicht-Sehen, Riechen, Fühlen, Schmecken und Hören. Als Brücke zwischen dem Gestern und dem Übermorgen, den stetig changierenden Aspekten unserer Welt, unserem Ich und seinen Schatten, unserem Sein und Nicht-Sein.

Stern am Morgen, Kräuseln im Fluss
Zuckender Blitz in einem Sommersturm
Flackerndes Licht
Schatten im Traum
So ist diese flüchtige Welt

- aus dem Diamantsutra -

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II

Der Fall 1 des Hekiganroku beschreibt die Begegnung zwischen dem legendären Mönch Bodhidharma dem Kaiser Wu, einem belesenen und praktizierenden Buddhisten.

Kaiser Wu fragt Meister Bodhidharma nach dem tiefsten Sinn der heiligen Wahrheit. Bodhidharma antwortete ihm: „Unendlich weit und leer. Nichts von heilig.“
Da fragte der Kaiser: „Und wer bist Du - mir gegenüber?“ Bodhidharma erwiderte: „Ich weiß es nicht.“ Der Kaiser verstand nichts. Später überquerte Bodhidharma den Yangtse-Fluß und gelangte ins Königreich Gi.

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Der Kaiser, ein gebildeter Mann, wollte schlichtweg wissen: „Was ist das Geheimnis des Buddhismus?“ Worum geht es, was ist der Kern, die Essenz dieser Lehre aus dem fernen Indien? Oder, in der Formulierung zahlreicher anderer Koans: Warum kam Bodhidharma aus dem Westen? Worum geht es im Zen?

Wenn wir versuchen, diese Frage vom Kopf aus zu beantworten, wird die Glocke, die uns im Koantraining bedeutet, dass wir noch einmal antreten müssen, rasch läuten.
Vielmehr geht es darum sich jenem „weit und leer“ unmittelbar zu öffnen und sich hierdurch verwandeln zu lassen.

Dies ist keine intellektuelle Handlung, sondern vielmehr eine körperliche. Sie entspringt aus dem hara, nicht aus unserem Kopf. Sie ist relational: sie kann sich im Rahmen einer Begegnung erschließen. Mit mir selbst, mit anderen, mit der Welt, den 10 000 Dingen. Als horizontale Bewegung. Und obgleich sie eine Form der horizontalen Transzendenz annehmen kann, ist sie nichts Abgehobenes. Im Gegenteil. Sie ist so konkret wie ein Blütenstrauch im Garten nur sein kann. Sie ist so handfest wie unser Leben: konkret, einzigartig und edel.
Und genauso heilig wie „weit und leer“, das „kein Auge, kein Ohr...“ des Herzsutra. Alles ist heilig. Alles ist „ich“. Wer also bin ich?

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III

Setchos Vers zum Fall 40 des Hekiganroku spricht vom Sehen, Hören, Empfinden, Erkennen als „nicht eins und eins“.

Er fährt fort:
Wie in einem Spiegel erscheinen Berge und Flüsse und werden nicht gesehen.
Der Himmel frostkalt, der Mond untergegangen.
Es ist Mitternacht.
Wer kann dies bezeugen?
Lichtreflexe huschen über das Wasser.
Es ist kalt.

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Da ist es wieder: vom Spiegel aus betrachtet, gibt es weder Berge noch Flüsse. Ein Spiegeltraum: reine Reflexion.
Von Bergen und Flüssen aus betrachtet, lassen sich diese nicht durch einen Spiegel erfahren.
Im Dunkeln, nach Mitternacht, kann ich weder den „Fuß voran noch den Fuß hintan“ erkennen. Gleichwohl werde ich von ihnen getragen. Ein Traum? Wer kann dies bezeugen?
Aus der „Wolke des Nichtwissens“ auftauchend, nehmen wir die Welt wahr. Nicht eins und eins. Denn sie existiert, weil wir sie wahrnehmen, weil wir ihre Zeugen sind, weil wir sie lieben.

Gassho,
Juen, Nanzan

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