Täuschungen sind unerschöpflich

Seit etwa zwanzig Jahren treffen wir uns donnerstags zum Zazen, abgesehen von einer Sommerpause und einer kleinen Unterbrechung zwischen den Jahren. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden hat sich über die Jahre verändert, zuletzt auch das Format: seit 2 Jahren überwiegend virtuell.
Aber wir kommen zusammen. Donnerstag, das ist "unser Abend".

In Zeiten der Pandemie war dies ein wichtiger Anker in Wochen, die vieles bis dahin Selbstverständliches erschütterten: öffentliche Verbote, schwere Einschnitte in unser soziales Leben, in unser Verhalten insgesamt. Wir konnten nicht mehr in einem Raum zusammen rezitieren, ein wichtiger Bestandteil unserer Praxis. Vor allem aber: wir konnten nicht in einem Raum zusammen das tun, was unseren Leben, für viele von uns seit Jahren, Halt gibt und Stütze ist. Das war und ist äußerst schmerzhaft. Leider hat sich auch durch die erzwungene Distanzierung die Zusammensetzung unserer kleinen Gemeinschaft verändert.

Aktuell jedoch scheint es, als ob ein wenig Hoffnung berechtigt ist, die wärmeren Zeiten nahen, die Fallzahlen sinken. Zarte Gedankenausflüge auf ein wiedereröffnetes Zendo, zumindest von April bis Oktober.
Erinnerungen an unseren Klang, an diesen einen Klang, an das Lachen und an die Stille in unserem schönen Zendo am Ende der Straße, das dieses Jahr 10 Jahre alt wird. So in etwa waren unsere Gedanken und Hoffnungen. Nun wurden unsere Leben erneut erschüttert - 24. Februar 2022.

Niemals hätten wir gedacht, dass wir uns an einem Abend treffen würden, an dem ein Krieg beginnt. Mitten unter uns, 1719 km von unserem Zendo entfernt. In einem Land, dass sich seit Ende der 90er Jahre demokratisiert hat. In einem Land, das konstitutionell betrachtet, dem unsrigen nahesteht. Es wird auf eine Bevölkerung geschossen, die sich seit Jahren westlich orientiert. Das alles geschieht nicht nur auf unserem Kontinent, es geschieht: den unsrigen.

Wir haben an dem Abend auch über unsere Gefühle gesprochen, die von Angst, Wut und großer Traurigkeit geprägt sind.
Reicht das?
Was können wir, als Bodhisattvas in einem Land mit ruhigen Nächten und vollen Märkten, darüberhinaus aktuell tun?
Natürlich sind wir machtlos gegenüber Panzern und Gewehren. Ebensowenig können wir heute dorthin reisen und "helfen".
Reicht das "denken an", die Kerze auf der Fensterbank, der betroffene Blick?
Nein, natürlich nicht.

In Anbetracht dieser unverhohlenen Bedrohung für unseren Frieden und den unserer Enkel, in Anbetracht der Tatsache, dass nun offenbar wird, was einige, allerdings pandemiebedingt, bereits vermutet haben: die Welt wird nicht mehr sein wie vor dem Januar 2020.

Hatte bereits Wuhan gezeigt, dass dies zwar eine Stadt im fernen China sein mag, die aber dennoch drei Monate später hautnah bei uns einziehen kann, macht uns die aktuelle Aggression deutlich, dass es in modernen Zeiten "fern oder nah" nicht mehr gibt. Nie wieder geben wird. Wir sind, willentlich oder unfreiwillig, miteinander zutiefst verknüpft. Ob es der am Folgetag bereits angestiegene Benzinpreis ist oder weitaus tiefergehende Umwälzungen der zukünftigen Monate: alles, alles findet auch in unserem Wohnzimmer, auf unserem Tablet, auf unserem Smartphone statt.
Nie war es sprichwörtlich sichtbarer, dass jede meiner Handlungen Auswirkungen hat, nicht nur auf den direkten Adressaten, sondern Wellenringe auslöst wie ein Stein auf einem See. Dieser Krieg ist auch eine Folge zahlloser Entscheidungen im Vorfeld.

Das kann ich tun. Dies im Blick haben, diese ein, zwei Sekunden bedenken, wohin mein Ruf führt, bevor ich ihn aussende: wer wird wie reagieren? Wer wird wie Schaden nehmen? Und natürlich auch: wie wird das Ganze zu mir zurückkommen? Denn das tut es. Immer. Es ist ein altes Gesetz, heute etwas schneller als zu Napoleons Zeiten, aber genauso zutreffend.

Zazen, diese stille unscheinbare Praxis, zeichnet sich durch ein hohes Maß an Entschlossenheit aus. Ein bisschen Zazen, das geht nicht. Wir praktizieren jedes Mal den ganzen Atem, jedes Mal die ganze Sitzrunde.
Das kann ich tun: sagen, was ist. Klar und deutlich, dank meiner Praxis, die ein untrügliches Gespür dafür vermitteln kann, was richtig ist und was falsch ist.

Aber geht es im Zazen nicht darum, unsere Dualität zu verlassen?
Natürlich verlassen wir diese, versuchen wir, alles einzubeziehen, im Moment gerade diese Wucht aus Hilflosigkeit, Schuldgefühlen, Angst und ein bisschen Dankbarkeit dafür, noch im Warmen sitzen zu können.

Das ist die eine Seite. Sie ist jedoch nicht zu verwechseln mit einem Zustand, der auch im Zazen jedes Mal gebogen und gedehnt wird bis er ist wie ein Bambus: biegbar, aber kaum zu brechen. In der Hospizarbeit nennen wir dies "Haltung". Wissen, ein Wissen, das aus dem Hara kommt, das uns erkennen lässt, was genug ist und wann. Wissen um Inhalt, Folgen, Zeitpunkt und Tempo. Was richtig ist und was falsch. Was heilsam ist und was ruinös. Wie ich handeln muss. Das geschieht in einem denkfreien Raum, denn es ergibt sich als natürliche Geste aus dem Zazen.
Das kann ich tun.

Ich kann mein Leben auf dessen Friedfertigkeit hin beleuchten. Wie halte ich es mit meiner Macht? Wann neige ich zur Manipulation? Wann füge ich meinen Worten etwas hinzu, was vielleicht nicht ganz der Wahrheit entspricht? Neige ich zu starken Meinungen? Was gewinne ich dadurch? Wie fühlt sich das an und wo spüre ich es in meinem Körper?
Auch das kann ich tun.

Wir fühlen uns nicht nur seit vielen Jahrzehnten erstmals wieder bedroht, wir sind es. Wie verändert dies meine Sicht, meine Handlungen im Alltag? Sortieren sich meine Prioritäten anders? Meine Zeit hier ist kurz, auch das wird jetzt noch deutlicher. Was bleibt zu tun? Wie möchte ich sie leben?
Auch das kann ich tun.

Reicht das? Nein. Es reicht nicht. Zu gewaltig sind die Ereignisse, zu erschütternd die Bilder, zu tiefgreifend werden die Folgen sein.
Hat es je gereicht? Nein.

Was zählt im Angesicht all dessen? Dabeibleiben. Aushalten. Die ganze Katastrophe mitten in mir. Sie ist schon lange vor Ort. Nun wird sie sichtbar, spürbar für jeden von uns in der Folge, all dies ganz in unserer Nähe. Das sind wir. Das vermögen wir. Und das alles haben wir dem entgegenzusetzen: Klarheit und Entschlossenheit. Mut und Mitgefühl. Verzicht und Disziplin. Vertrauen in den unerschütterlichen Teil in uns, der weiß, was richtig ist und was falsch, was geeint werden muss und was für immer zum Schweigen gebracht werden sollte.

Wir sind es uns schuldig, unserem kleinen noch verletzlicherem Leben. Den Geschichtsbüchern und unseren Enkeln. Den vielen Generationen, die dafür gearbeitet und oft auch ihr Leben gelassen haben, dass wir es "besser" haben mögen. Und jenen Frauen und Männern nicht weit von hier, die an uns glauben, deren Werte wir teilen, angefangen von ihrer Heimatliebe bis hin zu einem Sehnen nach Leben in Freiheit.
Auch das können wir tun. Müssen wir tun. Ab jetzt. Bis zum Horizont und darüber hinaus.

Zahllose fühlende Wesen: ich gelobe, mit allen gemeinsam zu erwachen.
Täuschungen sind unerschöpflich: ich gelobe, sie alle zu lassen.
Unzählbare Dharma-Tore: ich gelobe, sie alle zu durchschreiten.
Unübertroffen ist Buddhas Weg: ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

Die Vier Großen Gelöbnisse


Gassho, Juen und Nanzan


Scan 27.02.2022, 20.26

Juen, Nürnberg/Hiroshima 2005