Oben, wo das Herz liegt

Das Herzsutra beginnt ungewöhnlich: während die alten Sutren üblicherweise mit den Worten „evam me suttam“ - „so habe ich gehört…“ - anfangen, beginnt das Herzsutra mit dem Archetyp des Mitgefühls, Bodhisattva Avalokiteshvara. Sie fasst ihre Erfahrung zusammen („Avalokiteshvara Bodhisattva übt von ganzem Herzen die Verwirklichung von Weisheit jenseits von Weisheit. Sie sieht: die fünf Skandhas von Körper und Geist sind leer und befreit alle aus ihrer Bedrängnis“).

Dann wendet sie sich an Shariputra (skt.:Sharadwatiputra). Dieser galt als jemand, welcher der Weisheit und dem Intellekt des Buddhas nur wenig nachstand. Avalokiteshvara spricht hier die Worte aus, für die das Herzsutra berühmt geworden ist: „...Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form...“.

Wir sind geneigt, diese zwei Jahrtausend alten Sätze mit unserem Kopf verstehen zu wollen. Der große Medicus im 5. Jahrhundert vor Christus muss das gewusst haben: es funktioniert nicht.
Durch all die Jahrhunderte hindurch scheint es jedoch Menschen gegeben zu haben, die diese Erfahrungsweisheit erlebt haben – so sehr, dass sie den Text erhaltenswürdig erachtet und bis heute weitergereicht haben.

Kanzeon, von der gesagt wird, dass sie die Rufe und Klagen der Welt hört, hat „verstanden“: „...Leere ist aller Dinge wahre Natur.“

Wenn ich mich berühren lasse, werde ich bewegt. Wenn ich höre, sehe, schmecke, fühle, wird deutlich, dass nichts davon unabhängig von- und zueinander geschehen kann. Alles ist ineinander verwoben, bedingt und untrennbar miteinander verbunden in jenem riesigen, ewig changierenden Kaleidoskop, dass ich „mein“ Leben nenne.

Oder: Leben, denn es ist das unsrige und wiederum auch nicht. Natürlich trägt es meinen Namen und meine Handschrift. Aber nur ein Windstoß reicht, um zu erfahren, wie wasserlöslich beide sind – im Übrigen sind beide ohnehin nur geliehen.

Im Universum von Shariputra und Avalokiteshvara gab es weder „Leere“ noch „Fülle“, weder „Sein“ noch „Nicht-Sein“. Es gibt nur diesen tiefen Strom, der einzig im Dunkeln sichtbar ist und der fortwährend wechselt zwischen Welle und Woge, Ebbe und Flut. Er ist es, der die Substanz aller Wellen bildet. Selbst wenn wir ihn auch nur gelegentlich besuchen, wird es uns niemals mehr an sinnvollen Aufgaben fehlen und wir werden nie wieder einsam oder alleine sein.

Gassho, Juen

P8200014